Lolita (German)
Paläopedologie beziehungsweise Äolsharfen. Meine sehr photogene Mutter starb durch einen bizarren Unfall (Picknick, Blitz), als ich drei war, und außer einer Tasche voll Wärme in der dunkelsten Vergangenheit ist nichts von ihr in den Mulden und Höhlungen meiner Erinnerung haftengeblieben, über denen -wenn Sie meinen Stil noch ertragen können (ich schreibe unter Bewachung) - die Sonne meiner ersten Kindheit untergegangen war: Sicher kennen Sie alle jene duftenden Überreste des Tages, die zusammen mit den Zuckmücken um eine blühende Hecke hängen oder in die man beim Dahinwandern plötzlich gerät und die man durchschreitet, am Fuße eines Hügels, in der Sommerdämmerung; pelzige Wärme, goldene Zuckmücken.
Die ältere Schwester meiner Mutter, Sybil, die ein Vetter meines Vaters geheiratet und dann sitzen gelassen hatte, diente in meiner nächsten Familie als eine Art unbezahlter Gouvernante und Haushälterin. Später erzählte mir jemand, sie sei in meinen Vater verliebt gewesen, und er habe sich dies an einem Regentag leichten Herzens zunutze gemacht und es wieder vergessen, sobald das Wetter sich klärte. Ich war ihr außerordentlich zugetan, trotz der Strenge - der verhängnisvollen Strenge - mancher ihrer Vorschriften. Vielleicht wollte sie erreichen, daß ich zur gegebenen Zeit einen besseren Witwer abgäbe als mein Vater. Tante Sybil hatte rosageränderte, himmelblaue Augen und einen wächsernen Teint. Sie schrieb Gedichte. Sie war auf poetische Weise abergläubisch. Sie sagte, sie wisse, daß sie kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag sterben werde, und so geschah es auch. Ihr Mann, ein erprobter Par-fumvertreter, brachte den Hauptteil seines Lebens in Amerika zu, wo er eines Tages eine Firma gründete und ein wenig Grundbesitz erwarb.
Ich wuchs als glückliches, gesundes Kind in einer hellen Welt von illustrierten Büchern, sauberem Sand, Orangenbäumen, zutraulichen Hunden, Ausblicken aufs Meer und lächelnden Gesichtern auf. Um mich her drehte sich das glanzvolle Hotel Mirana wie eine Art privaten Universums, ein weißgetünchter Kosmos innerhalb des größeren blauen, der draußen strahlte. Vom beschürzten Geschirrwäscher bis zum flanellbeldeide-ten Potentaten mochten und hätschelten mich alle. Ältliche amerikanische Damen, auf ihre Stöcke gestützt, neigten sich mir zu wie Türme von Pisa. Ruinierte russische Fürstinnen, die meinen Vater nicht bezahlen konnten, kauften mir teure Pralinen. Er, mon eher petit papa , nahm mich zum Rudern und Radeln mit, brachte mir Schwimmen und Tauchen und Wasserski bei, las mir Don Quijote und Les Misérables vor, und ich vergötterte ihn, achtete ihn und war froh für ihn, sooft ich die Bediensteten über seine verschiedenen Freundinnen sprechen hörte, schöne und freundliche Wesen, die viel von mir hermachten und girrten und kostbare Tränen über meine vergnügte Mutterlosigkeit vergossen.
Ich besuchte eine englische Tagesschule, ein paar Kilometer von zu Hause entfernt, und spielte dort Tennis und Fives und bekam ausgezeichnete Zensuren und vertrug mich mit meinen Schulkameraden wie mit den Lehrern bestens. Die einzigen Erlebnisse eindeutig sexueller Art vor meinem dreizehnten Geburtstag (also ehe ich meine kleine Annabel kennenlernte) waren, soweit ich mich erinnere: ein ernstes, schickliches, rein theoretisches Gespräch über Pubertätsüberraschungen, das ich im Rosengarten der Schule mit einem amerikanischen Jungen führte, dem Sohn einer damals gefeierten Filmschauspielerin, die er in der dreidimensionalen Welt selten zu sehen bekam; und ein paar interessante Reaktionen meines Organismus beim Anblick der unendlich sanften, perlgrau- und umbragetönten Rundungen auf den Photographien in Pichons Prachtband La Beauté Humaine, den ich in der Hotelbibliothek unter einem Berg marmoriert gebundener Graphic- Hefte hervorstibitzt hatte. Später gab mir mein Vater in seiner köstlich unbefangenen Art alle Aufklärungen über Sex, die ich seiner Meinung nach brauchte; das war kurz bevor er mich im Herbst 192 3 auf ein Gymnasium in Lyon schickte (wo wir drei Winter zubringen sollten); aber ach, im Sommer desselben Jahres machte er mit Mme de R. und ihrer Tochter eine Italienreise, und ich hatte niemanden, dem ich mein Leid klagen, niemanden, den ich um Rat fragen konnte.
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Annabel war, wie der Autor, gemischter Herkunft: halb englischer, halb niederländischer in ihrem Falle. Heute erinnere ich mich ihrer Züge viel weniger deutlich als vor ein paar
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