Lolita (German)
zustrebt als einer moralischen Apotheose. Ein Zy-niker könnte behaupten, daß gewerbsmäßige Pornographie denselben Anspruch erhebe; Gelehrte könnten einwenden, daß «H. H.»s leidenschaftliches Bekenntnis ein Sturm im Reagenzglas sei; daß wenigstens zwölf Prozent der erwachsenen amerikanischen Männer - Dr. Blanche Schwarzmann zufolge eine vorsichtige Schätzung (mündliche Mitteilung) - jährlich in der einen oder anderen Form die besonderen Erlebnisse genießen, die «H. H.» mit so viel Verzweiflung beschreibt; daß keine Katastrophe eingetreten wäre, wenn unser geistesverwirrter Tagebuchschreiber in dem verhängnisvollen Sommer 1947 einen kompetenten Psychopathologen konsultiert hätte; dann aber gäbe es freilich auch dieses Buch nicht.
Dem Kommentator sei verstattet zu wiederholen, was er in eigenen Büchern und Vorträgen immer wieder betont hat, nämlich, daß «anstößig» oft nur ein anderes Wort für «ungewöhnlich» ist; und daß ein großes Kunstwerk selbstverständlich immer originell ist; daß es seinem Wesen nach erschüttern und in Erstaunen setzen soll. Ich habe durchaus nicht die Absicht, «H. H.» zu verherrlichen. Kein Zweifel, er ist ein Scheusal, er ist verworfen, er ist ein leuchtendes Beispiel moralischen Aussatzes, eine Mischung von Grausamkeit und schnödem Witz, die vielleicht äußerste Seelennot verrät, aber nicht anziehend wirkt. Er ist auf gravitätische Art kapriziös. Viele seiner beiläufigen Ansichten über Land und Leute in Amerika sind grotesk. Die verzweifelte Ehrlichkeit, die seine Beichte durchpulst, spricht ihn nicht von seinen teuflisch verschlagenen Sünden los. Er ist anomal. Er ist kein Gentleman. Aber wie zauberisch kann seine singende Violine ein zärtliches Mitleid mit Lolita heraufbeschwören, so daß wir von dem Buch hingerissen sind, während wir seinen Autor verabscheuen!
Als klinischer Fall wird Lolita in psychiatrischen Fachkreisen zweifellos klassischen Rang einnehmen. Als Kunstwerk geht es über eine reine Beichte weit hinaus. Noch wichtiger indessen als die wissenschaftliche Bedeutung und der literarische Wert ist uns die moralische Wirkung, die dies Buch auf jeden ernsthaften Leser ausüben dürfte, denn in dieser zerquälten persönlichen Studie steckt eine allgemeingültige Lehre; das vernachlässigte Kind, die egozentrische Mutter, der keuchende Verrückte - sie sind nicht nur lebensvolle Figuren einer einzigartigen Geschichte, sie warnen uns auch vor gefährlichen Strömungen, weisen auf herrschende Übelstände hin. Lolita sollte uns alle - Eltern, Sozialarbeiter, Erzieher - dazu veranlassen, uns mit noch größerer Wachsamkeit und Hellsicht der Aufgabe zu widmen, eine gesündere Generation in einer weniger unsicheren Welt großzuziehen.
Widworth, Massachusetts Dr. phil. John Ray jun. 5. August 1955
Erster Teil
1
L olita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.
Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.
Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand, Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.
Hatte sie eine Vorläuferin? Ja doch, die hatte sie. Es hätte vielleicht gar keine Lolita gegeben, hätte ich nicht eines Sommers ein gewisses Ur-Mädchenkind geliebt. In einem Prinzenreich am Meer. Ach, wann war es doch? Ungefähr so viele Jahre vor Lolitas Geburt, wie mein Alter in jenem Sommer betrug. Bei einem Mörder können Sie immer auf einen extravaganten Prosastil zählen.
Meine Damen und Herren Geschworene, Beweisstück Nummer eins ist, was die Seraphim neideten, die schlecht unterrichteten, naiven, edelbeschwingten Seraphim. Ergötzen Sie sich an diesem Dorngestrüpp.
2
Ich wurde 1910 in Paris geboren. Mein Vater war ein weichmütiger, leichtlebiger Mann, ein Russischer Salat von Rassegenen: Schweizer Staatsangehöriger gemischt französisch-österreichischer Herkunft mit einem Schuß Donau in den Adern. Ich werde gleich ein paar wunderhübsche, blauüberglänzte Ansichtskarten herumreichen. Er besaß ein Luxushotel an der Riviera. Sein Vater und zwei Großväter hatten mit Wein respektive Juwelen und Seide gehandelt. Mit dreißig Jahren heiratete er eine junge Engländerin, Tochter von Je-rome Dunn, dem Alpinisten, und Enkelin von zwei Pastoren in Dorset, Kennern auf so obskuren Gebieten wie
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