Lolita (German)
Vorwand (es war unsere allerletzte Chance, und es kam nicht mehr darauf an) entwischten wir aus dem Café und suchten eine menschenleere Stelle am Strand; dort, im violetten Schatten einiger roter Felsen, die eine Art Höhle bildeten, kam es zu einem kurzen Austausch gieriger Liebkosungen, deren einziger Zeuge eine Sonnenbrille war, die irgendwer verloren hatte. Ich lag auf den Knien, im Begriff, meinen Liebling zu besitzen, als zwei bärtige Schwimmer, der alte Wassermann und sein Bruder, mit unflätigen Ermunterungsrufen aus dem Meer tauchten, und vier Monate später starb sie auf Korfu an Typhus.
4
Wieder und wieder durchblättere ich diese armseligen Erinnerungen und stelle mir immer von neuem die Frage, ob damals, im Glitzer jenes fernen Sommers, der Riß in mein Leben gekommen ist, oder ob mein unbändiges Verlangen nach jenem Kind nur das erste Zutagetreten einer bereits in mir angelegten Besonderheit war. Wenn ich versuche, meinen Begierden, Motiven, Handlungen und so weiter auf den Grund zu gehen, überlasse ich mich einer rückblickenden Phantasie, die mein Analysiervermögen mit unbegrenzten, einander widersprechenden Möglichkeiten versorgt, so daß jeder in der Vorstellung eingeschlagene Pfad sich in der wahnsinnig komplexen Landschaft meiner Vergangenheit endlos verzweigt und wieder verzweigt. Ich bin jedoch überzeugt, daß Lolita auf eine gewisse magische und schicksalhafte Weise mit Annabel begann.
Ich weiß auch, daß der Schock, den Annabels Tod mir verursachte, das darbende Verlangen jenes Alptraumsommers fixierte und es all die kalten Jahre meiner Jugend zum dauernden Hindernis für andere Liebesregungen machte. Das Geistige und das Körperliche hatten sich in unserer Liebe mit einer Vollkommenheit vermengt, die dem sachlichen, groben Standardgehirn heutiger Jugendlicher unbegreiflich bleiben muß. Lange nach ihrem Tod fühlte ich ihre Gedanken durch die meinen fluten. Lange bevor wir uns begegneten, hatten wir die gleichen Träume gehabt. Wir verglichen unsere Notizen. Wir entdeckten seltsame Verwandtschaften. Im gleichen Juni des gleichen Jahres (1919) war ein verirrter Kanarienvogel in ihr und in mein Haus geflattert, in zwei weit voneinander entfernten Ländern. Ach, Lolita, hättest du mich so geliebt!
Ich habe den Bericht über unser erstes erfolgloses Stelldichein dem Abschluß meiner «Annabel-Phase» vorbehalten. Eines späten Abends gelang es ihr, die bösartige Wachsamkeit ihrer Familie zu überlisten. In einem nervösen und schlankblättrigen Mimosenhain hinter ihrer Villa fanden wir einen Platz auf den Überresten einer niedrigen Steinmauer. Durch die Dunkelheit und das zarte Laub konnten wir die Arabesken erleuchteter Fenster sehen, die mir heute, von den farbigen Tinten empfindsamen Erinnerns angetuscht, wie Kartenblätter erscheinen - vermutlich, weil ein Bridgespiel den Feind ablenkte. Sie zitterte und zuckte, als ich den Winkel ihrer geöffneten Lippen und ihr heißes Ohrläppchen küßte. Ein Haufen Sterne glühte blaß zwischen den Silhouetten der langen dünnen Blätter über uns; der vibrierende Himmel schien so nackt zu sein wie sie selber unter ihrem leichten Kleid. Ich sah ihr Gesicht in diesem Himmel, seltsam deutlich, als strahle es einen ihm eigenen schwachen Glanz aus. Ihre Beine, die liebreizenden, lebendigen Beine, waren nicht zu dicht beieinander, und als meine Hand fand, was sie suchte, kam ein träumerischer, unirdischer Ausdruck, halb Lust, halb Schmerz, in ihre kindlichen Züge. Sie saß etwas höher als ich, und sooft es sie in ihrer einsamen Verzückung dazu drängte, mich zu küssen, senkte sie den Kopf mit einer schläfrigen, sanften, matten Bewegung, die fast märtyrerhaft war, und ihre nackten Knie hielten und preßten mein Handgelenk und lockerten sich dann wieder; und ihr bebender Mund, von der Schärfe eines geheimnisvollen Tranks verzogen, kam mit einem zischenden Einziehen des Atems nah an mein Gesicht. Sie versuchte, die Liebespein zu lindern, indem sie zuerst ihre trockenen Lippen rauh gegen die meinen rieb; dann zog sich meine Liebste mit einem nervösen Schütteln des Haars zurück, kam dunkel wieder an mich heran und ließ mich an ihrem offenen Mund weiden, während ich mit einer Hingabe, die bereit war, ihr alles zu schenken, mein Herz, meine Kehle, meine Eingeweide, ihrer ungeschickten Faust das Zepter meiner Leidenschaft zu halten gab.
Ich erinnere mich an den Duft eines Körperpuders -ich glaube, sie hatte ihn der spanischen Zofe ihrer
Weitere Kostenlose Bücher