Loreley
Vordergründig blies er auf seiner Sackpfeife einen exot i schen Tanz, ein heißblütiges Klangspektakulum, bei dem sonst die jungen Mädchen und Knechte in den Schänken umeinander wirbelten. Doch jenseits dieser vergnügten Schelmenmelodie war noch etwas anderes, etwas, das niemand außer Ailis wahrnahm. Es war ein Gefühl, als hätte sie sich versehentlich in d en Traum eines Fremden verirrt, dem wahren Leben verwandt und doch unendlich anders. Die Umg e bung verlor an Tiefe, wurde flach wie die gemalte Kulisse eines Gaukelspiels. Sogar die Bew e gungen der Menschen wirkten mit einem Mal falsch, das hölzerne Gezappel von Handpuppen. Die Burg und ihre Bewohner verschwammen, entfernten sich. Ailis hatte das Gefühl, als würde die Melodie des Spielmanns zu einem Wegweiser in Regionen jenseits der Wirklichkeit, zum rettenden Faden im Labyrinth der Beliebigkeiten.
Dann, auf einen Schlag, brach die Musik des Langen Jammrich ab, die Konturen der Menschen und Gebäude wölbten sich Ailis von neuem entgegen und sie fand z u rück in ihre vertraute Welt. Alles war wieder wie vorher, und doch schien ihr, als hätte die Umgebung eine hauc h feine Schicht ihrer Farbigkeit verloren – als wäre sie a n gesichts dessen, was dahinter lag, ein wenig bleicher, unbedeutender geworden.
Ailis starrte den Langen Jammrich eindringlich an, weniger ängstlich als voller Neugier. Sie fürchtete sich vor dem, was sie gerade erlebt hatte, doch viel größer noch war ihr Verlangen, mehr darüber zu erfahren, zu begreifen, wie der Spielmann es vollbracht hatte, ihr di e sen Blick nach – wohin eigentlich? – zu ermöglichen.
Während der Darbietung des mysteriösen Musikanten musste mehr Zeit verstrichen sein als Ailis angenommen hatte, denn der Gabenberg vor seinen Füßen war zu b e trächtlicher Höhe angewachsen. Zudem hatte, wie sich jetzt herausstellte, der Graf befohlen, einen gewissen Gastwirt aus dem Dorf herbeizuholen, der dem Langen Jam m rich einen beträchtlichen Münzbetrag schuldig war. Aus dem Gerede der Umstehenden erfuhr Ailis, dass der Musikant bei seinem l etzten Besuch in dieser Gegend im Schankraum des Wirtes aufgespielt hatte, von dem Gei z kragen jedoch um seine Bezahlung geprellt worden war.
Nun galten im ganzen Land für fahrende Spielleute andere Gesetze als für gewöh n liche Bürger, meist wurde ihnen rundheraus jedes Recht auf Genugtuung abgespr o chen. Graf Wilhelm aber schien es mit dem Langen Jammrich gut zu meinen; er hatte in den Gesetzbüchern des Königs nachgeschlagen und entdeckt, dass es für solch einen Fall eine festgeschriebene Regel gab. Zwar konnte man den Wirt von Rechts wegen nicht zwingen, einem dahergelaufenen Spielmann Geld auszuzahlen – »Wo kämen wir denn auch hin!«, bemerkte einer der Z u schauer-, doch für eine derart verzwickte Lage hatte K ö nig Ludwig in seiner Weisheit eine ganz besondere Mö g lichkeit der Buße ersonnen. Und so war der Lange Jam m rich zurückgekehrt, um sein Recht einzufordern und den betrügerischen Wirt mit des Grafen Absolution zu bestr a fen.
Es traf sich gut, dass der Nebel über Burg Rheinfels schon vor geraumer Weile au f gerissen war und einige Sonnenstrahlen ihren Weg über die Zinnen hinab in den Haup t hof fanden. Die Schaulustigen wichen zur Seite, als der weinerliche Gastwirt dem Grafen vorgeführt wurde und dieser ihm seine Bestrafung verkündete. Der Wirt bekla g te lautstark die Schande, die ihm von der Hand eines streunenden Gauklers widerfahren sollte, und so sah sich Graf Wilhelm bemüßigt, obendrein eine Mün z strafe auszusprechen, zahlbar an den gräflichen Schat z meister.
Zwei Wächter führten den Wirt so lange im Hof u m her, bis sie eine Stelle gefunden hatten, von der aus der Schatten des Mannes scharf umrissen auf die Mauer n e ben dem Küchentor fiel. Unter dem Gelächter der U m stehenden wurde e in Hocker herbeig e bracht und vor der Wand aufgestellt. Der Lange Jammrich erhielt ein Schwert und stieg mit geckenhafter Gebärde, stets auf Beifall und Hochrufe bedacht, auf den Schemel. Dort beäugte er prüfend den riesigen Schatten des Wirtes und gab den beiden Wächtern mit einem Wink zu verstehen, dass ihr Gefangener sich vornüber beugen sollte. Schlie ß lich schaute er noch einmal zum Himmel empor, vers i cherte sich, dass die Sonne kräftig genug schien, dann hob er mit gewichtiger Geste das Schwert, packte es mit beiden Händen, holte aus und ließ es mit aller Macht auf den Hals des Schattens krachen. Funken
Weitere Kostenlose Bücher