Loretta Chase
er
nachzuvollziehen, was Peregrine und andere Ägyptophile daran so reizvoll
fanden. Benedict sah drei Reihen recht primitiv gezeichneter Figuren. Eine
ganze Kolonne von Männern, deren Bärte sich aufwärts wellten, und die sich
allesamt vorlehnten, die Arme aneinandergepresst. Zwischen den Figuren
vereinzelte Hieroglyphen. Lange Reihen von Hieroglyphen über ihren Köpfen.
In der
mittleren Reihe zogen vier Figuren ein Boot mit drei weiteren Figuren darin.
Ein paar sehr lange Schlangen belebten die
Szene. Über ihren Köpfen noch mehr Hieroglyphen, reihenweise. Vielleicht
redeten die Figuren ja? Waren Hieroglyphen womöglich der ägyptische Vorläufer
der Sprechblasen in zeitgenössischen Karikaturen?
Ganz unten
marschierte eine weitere Figurenkolonne unter einer Hieroglyphenreihe entlang,
doch diese Figuren hatten andere Gesichtszüge und Frisuren als die oberen.
Wahrscheinlich Fremde. Am Ende der Reihe entdeckte Benedict eine Gottheit, die
sogar ihm bekannt war: Thot, der ibisköpfige Gott der Wissenschaft. Selbst
Rupert, an den eine
teure Bildung gänzlich verschwendet worden war – ebenso gut hätte Lord
Hargate das Geld an die Ziegen verfüttern können, und das Ergebnis wäre dasselbe
gewesen –, würde Thot mit seinem Ibiskopf erkennen.
Was der
Rest bedeuten sollte, blieb der Fantasie überlassen, und Benedict hielt seine
Fantasie – und noch einiges andere mehr – strikt unter Verschluss.
Er wandte
seine Aufmerksamkeit dem anderen Ende des Saals zu.
Seinem
Blick boten sich wenig Hindernisse. Für die beau monde hatte sich der Reiz des Neuen
längst verflüchtigt. Selbst das gemeine Fußvolk verbrachte einen so schönen
Nachmittag lieber draußen an der frischen Luft als zwischen antiken Gräbern.
Somit sah
Benedict sie klar und deutlich.
Zu klar und
zu deutlich.
Einen
Moment lang war er geblendet – so, als wäre er aus einer Höhle in die grelle Mittagssonne
getreten.
Sie wandte
ihm das Profil zu, wie die Figuren hinter ihr an der Wand. Sie betrachtete eine
Statue.
Unter dem
Rand einer hellblauen Haube sah Benedict schwarze Locken hervorschauen.
Lange schwarze Wimpern auf perlweißer Haut. Einen Mund wie eine reife rote
Pflaume.
Sein Blick
schweifte abwärts.
Ihm wurde
beklommen ums Herz.
Er bekam
kaum noch Luft.
Regel: Nur
der Ungebildete, der Einfältige und der Pöbel glotzt.
Er zwang
sich, seinen Blick abzuwenden.
Das
Mädchen schaute
Peregrine über die Schulter. Er versuchte, die Störung zu ignorieren, aber sie
stand ihm im Licht. Kurz sah er zu ihr auf, dann schnell wieder in sein
Skizzenbuch, doch hatte es genügt, um zu sehen, dass sie die Arme verschränkt,
die Stirn gerunzelt und die Lippen gespitzt hatte, als sie auf seine Zeichnung
starrte. Er kannte diesen Blick. Es war ein Lehrerblick.
Sie musste
sein kurzes Aufschauen als Einladung verstanden haben, denn sie fing an zu
reden. »Ich hatte mich gewundert, weshalb du dir ausgerechnet das Modell der
Pyramide ausgesucht hast«, sagte sie. »Es besteht nur aus geraden Linien
und Winkeln. Die Mumie in dem Sarkophag wäre viel spannender. Aber jetzt
verstehe ich, wo das Problem liegt. Du kannst überhaupt nicht zeichnen.«
Sehr
langsam und bedächtig wandte Peregrine den Kopf und sah zu ihr auf. Als er sie
genauer betrachtete, erschrak er. Ihre Augen waren so blau, dass sie gar nicht
wie richtige Augen, sondern wie Puppenaugen aussahen.
»Wie
bitte?«, sagte er in jenem Ton eisiger Höflichkeit, den er von seinem
Onkel gelernt hatte. Sein Vater war zwar Marquess und somit Mitglied des
Oberhauses, während sein Onkel derzeit nur den Ehrentitel Viscount Rathbourne
trug, aber Onkel Benedict beherrschte die Kunst der gnadenlosen Zurechtweisung
weit besser als Peregrines
Vater. Geradezu berühmt war er dafür. Wenn er zu höflicher Hochform auflief, so
hieß es, konnte Lord Rathbourne siedendes Öl aus zehn Schritt
Entfernung gefrieren lassen.
Bei
Peregrine funktionierte das mit der eisigen Höflichkeit nicht gar so gut.
»In Signor
Belzonis Buch ist ein Querschnitt der Pyramide abgebildet«, klärte das
Mädchen ihn mit einer Selbstverständlichkeit auf, als habe er es gebeten
weiterzuplappern. »Möchtest du nicht lieber ein Souvenir von einer der Mumien
haben? Oder von der Göttin mit dem Löwenkopf? Meine Mutter könnte dir eine
absolut brillante Abbildung anfertigen. Sie kann nämlich ganz vorzüglich
zeichnen.«
»Ich brauche kein Souvenir«, beschied Peregrine. »Ich
werde nämlich selber Entdecker und eines Tages
Weitere Kostenlose Bücher