Die Geschichte vom neidischen Dorle
Dorle wartet
Gleich nach dem Mittagessen lief Dorle zum Fenster und blickte unruhig hinunter auf die Straße. Ab und zu kamen Autos vorbei, dann einige Radfahrer. Jetzt erschien im langsamen Tempo der Lieferwagen des Konsums. Er kam aus der Markthalle und war mit offenen, rechteckigen Kisten beladen. In einigen befanden sich Möhren und leuchtend grüner Treibhaussalat, in anderen lagen dicke Rot- und Weißkrautköpfe, und drei oder vier beherbergten goldgelbe Apfelsinen.
Dorle Klöhner wohnte mit ihren Eltern in einer ruhigen Nebenstraße. An den Gehsteigen standen Lindenbäume. Ihre Äste waren schon mit winzig kleinen, braunen Knospen besetzt.
Es war erst Mitte April. Genau gesagt: der 14. April. Dorle hatte am Morgen, ehe sie zur Schule ging, das Kalenderblatt vom Vortage abgerissen. Das vergaß Dorle nie, seit sie vor ein und einem halben Jahr in die Schule eingeführt worden war.
Ungeduldig sah Dorle auf die flache Uhr über dem Bücherschrank. Sie mochte die Uhr mit dem länglichen Zifferblatt nicht leiden. Stets mußte sie erst eine Weile hinsehen, bis sie herausbekam, wie spät es war. Eine scheußliche Uhr! Die Küchenuhr war viel schöner; richtig rund, wie Dorles Meinung nach eine Uhr sein mußte.
Die Zeiger der Uhr wiesen auf halb drei. Jetzt könnte Traude aber endlich kommen!
Dorle hatte nicht etwa auf das Konsum-Auto gewartet. Das kam jeden Tag um diese Zeit vorbei, um den Gemüseladen im Eckhaus mit frischer Ware zu beliefern.
Mißmutig betrachtete Dorle die Schulhefte, die über den ganzen Wohnzimmertisch verstreut lagen. Schnell wandte sie ihre Augen wieder der Straße zu. Richtig aufgeregt war sie! Draußen in der Küche klapperte die Mutter mit dem Geschirr. Sie hatte abgewaschen, und nun bereitete sie wohl alles zum Kuchenbacken vor. Später wollte sie bügeln. Vom Abwaschen und Abtrocknen hielt Dorle nicht viel, aber bei den anderen Arbeiten half sie sonst immer gern. Beim Kuchenbacken vor allem, um zu naschen, beim Bügeln, weil es ihr Spaß machte zu sehen, wie die runzeligen Wäschestücke wieder schön glatt wurden. Dorle konnte schon sehr gut bügeln. Am ersten Schultage hatte Fräulein Fröhlich die Kinder nach ihren Fähigkeiten gefragt. Da hatte Dorle stolz erzählt, daß sie ihre Hemdchen selbst plätten könne.
Als Dorle noch kleiner war, benutzte sie immer ein leichtes Bügeleisen, in das ein glühender Stein geschoben wurde. Den Stein machte die Mutter vorher im Küchenherd heiß. Damals mußte Dorle noch auf eine Fußbank steigen, um das Bügelbrett zu erreichen. Seit einiger Zeit nahm sie nun schon das elektri-sche Eisen. Schließlich ging sie bereits in die zweite Klasse! Auf die Fußbank stieg sie auch nicht mehr. Die Mutti legte das Plättbrett auf die Sitzflächen zweier Stühle. So war es für Dorle gerade hoch genug.
Heute jedoch war das Kuchenbacken Nebensache für Dorle, und auf das Bügeln freute sie sich kein bißchen. Sie wagte sich nicht vom Fenster weg, starrte auf die Straße und wurde von Minute zu Minute ungeduldiger und mißmutiger.
Seit Dorle zur Schule ging, spürte sie manchmal ein komisches Gefühl in sich. Wie herbeigehext war es jedesmal, wenn eines von den Kindern aus der Klasse etwas Neues in die Schule mitbrachte. Buntstifte oder einen Federkasten; ein farbiges Halstuch oder eine hübsche Strickmütze.
Dorle wartete auf ihre Freundin Traude Neumann. Diese war gleich nach Schulschluß mit ihrem Vati ins HO-Kaufhaus gegangen, um ein neues Kleid zu kaufen. Dorle war aufgefordert worden mitzukommen. Sie hatte aber abgelehnt, denn die Mutti wartete mit dem Essen.
Was mochte Traude für ein Kleid ausgewählt haben? Das mit den vielen bunten Ringen vielleicht? Es lag in einem der Schaufenster des Kaufhauses. Oder das hellblaue mit dem weißen Kragen und den aufgesetzten Taschen?
Traude kommt
Plötzlich ließ Dorle alle Gedanken sausen. Um die Hausecke, wo sich der Gemüseladen befand, bog Traude. Ihr Vati ging neben ihr und trug einen flachen, länglichen Karton unter, dem Arm. Das neue Kleid! Und wie stolz Traude einherwackelte! Als wäre ein neues Kleid schon etwas Besonderes! Dorle ärgerte sich darüber, daß Traude sich so munter mit ihrem Vati unterhielt. Vor lauter Unruhe wäre Dorle der Freundin am liebsten entgegengelaufen. Traude wohnte im gleichen Hause, nur ein Stockwerk tiefer als Klöhners.
Hastig trat Dorle einige Schritte ins Zimmer zurück. Nachdenklich blieb sie am Tisch stehen, auf dem das Rechenbuch aufgeschlagen dalag.
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