Lost Place Vienna (German Edition)
die drei Fundorte einen geografischen
Überblick zu verschaffen. Sie brauchte dafür keinen Stadtplan. Da sie ständig
mit dem Fahrrad unterwegs war, hatte sie sich den Plan der Stadt längst in den
Kopf kopiert. Bislang ergaben die Punkte ein Dreieck. Ob aus der Winkelstellung
der nächste Punkt zu ermitteln war? Ein Quadrat wäre es nicht, so viel war
klar. Das wäre dann doch zu einfach. Aber einen vierten Punkt würde es geben.
Mindestens. Warum sollte der Killer jetzt auch einfach aufhören?
Valentina wollte nicht an ein nächstes Opfer denken. Sie war mit den
dreien bereits überfordert. Und doch könnte gerade das nächste Opfer zum Täter
führen. Dafür musste sie aber den Ort finden, wo der Täter zuschlagen würde.
Aber er schlug ja nie dort zu, wo er die Köpfe ausstellte. Trotzdem würde sie
den Bezirk abfahren und mögliche Häuser mit literarischer Fassadenmalerei
überprüfen.
Valentina stieg auf und radelte durch Floridsdorf. Ein Hauch von
Wehmut flog sie an. Hier war sie auf die Volksschule gegangen. An der Ecke, an
der nun ein Geschäft für gebrauchte Mobiltelefone war, hatte ihr Stiefvater
einst ein Musikgeschäft betrieben, im Hinterzimmer des Ladens hatte ihre Mutter
auf einer alten Singer Änderungen für die Nachbarschaft vorgenommen. Der Rhythmus
des Nähmaschinenmotors mit dem Klavierspiel ihres Stiefvaters vermischte sich
in Valentinas Ohr und brachte versunkene Bilder ins Bewusstsein.
Valentina hatte ihren Stiefvater gemocht. Ein echter Vater hätte
nicht besser sein können. Dank ihm hatte sie das Gitarrenspiel erlernt, erst
klassische Gitarre, dann Jazz. Erst viele Jahre später, er war bereits drei
Jahre tot, und Valentina war gerade sechzehn geworden, hatte sie sich getraut,
Heavy Metal zu spielen. Zum einen entsprach diese Musik mehr ihrem Temperament,
zum anderen verarbeitete sie so auch ihre Trauer um den einzigen Menschen, der
sie verstanden hatte. Mit ihrer Mutter kam sie überhaupt nicht mehr klar. Da
schien jedes Wort alles andere zu treffen, nur nicht das Ohr des Gegenübers.
Valentina empfand sich als Österreicherin, war hier aufgewachsen und
wehrte sich mit Händen und Füßen gegen alles Italienische. Sie hieß
Fleischhacker, wie ihr Stiefvater, und darauf war sie stolz. Ihre Mutter hatte
die deutsche Sprache nie richtig gelernt, sich ständig hinter ihrer Nähmaschine
versteckt und von Sizilien geträumt. Von der Mandelblüte, den Orangen und dem
unendlich blauen Meer. Und von der Fröhlichkeit der Menschen, die stets ein
Lachen auf den Lippen hatten und nicht wegen jeder Wolkenverschiebung am Himmel
grantelten.
Es war ein Postkartenbild gewesen, das sich Valentinas Mutter
während ihrer Arbeit an zu engen Hosen und zerschlissenen Röcken ausgemalt
hatte. Valentina hatte Sizilien anders in Erinnerung. Sie waren nicht umsonst
von dort geflohen, und die Bilder der Flucht verfolgten sie noch immer.
Die Ampel schaltete auf Grün, Valentina wischte die Erinnerung weg
und fuhr wieder auf die Floridsdorfer Brücke zu. Wenn sie drüben wäre, würde
sie auch ihre Jugenderinnerung zurücklassen. Jenseits der Donau lag ein anderes
Wien. Ihr eigenes Postkarten-Wien. So wie sich ihre Mutter Sizilien malte, so
komponierte sich Valentina ihr Wien. Nur dass sie wusste, dass es lediglich
eine Operette war, die nach drei Minuten der Realität zu weichen hatte, während
Valentina ihrer Mutter unterstellte, die Realität nicht mehr zu sehen.
Das schlechte Gewissen begann an ihr zu nagen. Vielleicht sollte sie
ihre Mutter mal wieder anrufen? Aber sie wusste jetzt schon, wie das Gespräch
verlaufen würde. »Come stai? Tutto bene? Quando vieni? Ti
aspetto, amore. Tutti ti aspettano …«
Sofort würde ihre Mutter familiären Druck auf sie ausüben. Und wenn
Valentina eines besonders am Herzen lag, dann die Familie auf größtmögliche
Distanz zu halten. Sie wusste um die Diktatur der Familie, um die Heuchelei der
Ehre und um die archaischen Gesetze. Sie hatte sich bewusst auf die andere
Seite geschlagen. Mit ihrer Familie, dem Clan und der Cosa Nostra wollte sie
nichts zu tun haben.
Ja, sie war ein Familienmitglied, aber sie hieß Fleischhacker, lebte
seit ihrem sechsten Lebensjahr in Wien und bekämpfte das Verbrechen bis aufs
Blut.
Sie trat stärker in die Pedale. Sie musste ihre Oberschenkel spüren.
Der Schmerz in der Muskulatur und das Keuchen ihrer Lungen würden die Gedanken
an ihre Familie verdrängen.
Er war aus dem Nichts gekommen. Valentina hatte ihn nicht
gesehen.
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