Lost Place Vienna (German Edition)
Ihrem Brodie, der Strat und ihr selbst war nichts passiert, aber der
Typ, der sich vor ihr auf dem Radweg krümmte, schien sich verletzt zu haben.
Was tauchte der auch plötzlich hinter der Linde auf? So ein Idiot.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Valentina.
»Ja, ja. Entschuldigung, ich habe nicht aufgepasst. Meine Schuld.
Sind Sie okay?« Der Mann rappelte sich auf und klopfte seinen hellgrauen Anzug
ab. Am Knie war die Hose zerrissen, Blut sickerte durch den Schlitz und färbte
das Grau mit einem arteriellen Rot.
»Sie haben sich verletzt.«
»Ein Kratzer, mehr nicht. Und den Anzug habe ich dreimal. War ein
Sonderangebot im Outlet.«
Das gefiel Valentina. Sie hatte befürchtet, sich lange mit einer
Debatte um Schuld und Versicherungskosten herumschlagen zu müssen.
Der Mann sah sie stumm an, winkte sie vorbei wie ein
Verkehrspolizist und lächelte gequält, während er humpelnd die Bahn frei
machte, um Valentina passieren zu lassen.
»Ist es wirklich nichts Schlimmes?« Die Zurückhaltung des Mannes erweckte
mehr Sympathie für ihn, als sie zeitlich zur Verfügung hatte.
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich muss einfach wacher durch
die Welt gehen. Das war schon immer mein Problem: zu viele Tagträume.« Er
bückte sich nach etwas, das im Gras neben der Linde lag, hob es auf und putzte
es mit einem Taschentuch ab.
»Ist Ihr Handy etwa kaputt?«, fragte Valentina.
»Das ist kein Handy. Es ist ein GPS .«
»Ein GPS ? Vielleicht sollten Sie es
mit einer einfachen Stadtkarte versuchen. So ein Dschungel ist Wien nun auch
wieder nicht.«
»Da wäre Freud aber anderer Meinung.«
»Glauben Sie etwa, Sie können die Abgründe der Menschen per GPS ergründen?«
»So ähnlich. Warum nicht? Interessieren Sie sich für Psychologie?«
Valentina zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, dem
Fremden zu verraten, dass es ihr Job war, menschliche Abgründe
nachzuvollziehen, um Tätern auf die Spur zu kommen, ehe sie zum wiederholten
Mal zuschlugen. Noch weniger wollte sie daran erinnert werden, dass ihr das
momentan nicht so rasch gelingen wollte, wie sie es von sich selbst verlangte.
»Aber Sie mögen sicherlich Piratenfilme«, sagte der Fremde.
Valentina blickte ihn verdutzt an.
»So wie Sie gekleidet sind und sich durch die Stadt bewegen,
schließe ich auf Abenteuerlust. Die Gitarre auf Ihrem Rücken lässt auf ein
musisches Gemüt schließen. Piratenfilme sind musikalische Filme. Sie sind das
Musical unter den Abenteuerfilmen. Das liegt an den Degengefechten. Der
Rhythmus der Klingen schwingt immer mit. Entschuldigen Sie, ich sagte ja, ich hätte
zu viel Phantasie.«
Der Typ gefiel ihr. Er scherte sich tatsächlich nicht um das Loch in
der Hose, obwohl er auf den ersten Blick den Eindruck eines Stutzers machte.
Aber für sie waren Anzugträger sowieso immer gleich Höflinge und
Speichellecker. Das lag an dem Krieg, den sie innerhalb ihrer Abteilung mit der
Hierarchie des Apparats zu führen hatte. Dort kleideten sich alle ihre Gegner
in Anzüge. Der Weg der Übertragung war kurz, Valentina schämte sich jetzt
dafür.
»Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«, fragte der Mann.
Valentina war gerade auf dem Weg in die Satyr-Filmbuchhandlung, um
sich die DVD s von »Bounty« und »Die drei
Musketiere« zu besorgen, aber sie brachte es nicht fertig, die Einladung
abzulehnen.
»Aber nur auf einen Espresso. Ich habe noch zu tun.«
»Natürlich. Sonst hätten Sie kaum so ein Tempo draufgehabt.« Sie
deutete über seine Schulter.
»Gehen wir gleich dort ins ›Testa Rossa‹, die machen den besten
Espresso.«
»Gerne.«
Valentina schob das Fahrrad, der Mann humpelte neben ihr her. Er
schien sich Mühe zu geben, die Schmerzen, die ihm sein geschundenes Knie
bereitete, zu verbergen. Sie sagten nichts, ehe sie an dem kleinen Bistro am
Schottenring angekommen waren.
»Ist das ein echter Italiener hier?«, fragte der Mann misstrauisch.
»Wieso?«
»Ich war im Sommer in Köln. Die Eisdielen dort nennen sich
Gelateria, aber die Besitzer sind durchweg Türken.«
Valentina lachte und rief dem Mann hinter der Theke zu: »Ciao,
Eduardo. Zwei Espressi, bitte.«
»Per me un macchiato, grazie«, sagte der
Mann.
Valentina drehte sich verdutzt nach ihm um.
»Sie sprechen Italienisch?«
»Sì, un pochino.«
»Aber fast akzentfrei. Sind Sie Italiener?«
»No, ma ho fatto alcuni anni in Italia. Un’altra
storia«, sagte der Fremde, der Valentina plötzlich näher gekommen war,
als ihr lieb war.
Sie
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