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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Augenblick sicher noch keine Ahnung hat, da sie bisjetzt wohl kaum einen Blick auf die Gästetafel geworfen und selbst ein solcher vielleicht ihrem schlichten Sinn … Und Madame Mager, Frau Hofrätin! Wie reißt es mich längst zu ihr in die Küche, um ihr die große städtische und literärische Neuigkeit brühheiß … Dennoch, Frau Hofrätin, und gerade um die herzbewegende Neuigkeit {23} zu vervollständigen, wage ich es, um Vergebung zu bitten für noch eine einzige Frage … Vierundvierzig Jahre! Und Frau Hofrätin haben den Herrn Geheimen Rat in diesen vierundvierzig Jahren nicht wiedergesehen?«
    »So ist es, mein Freund«, antwortete sie. »Ich kenne den jungen Rechtspraktikanten Dr. Goethe aus der Gewandsgasse zu Wetzlar. Den Weimarischen Staatsminister, den großen Dichter Deutschlands habe ich nie mit Augen gesehen.«
    »Es übernimmt einen!« hauchte Mager. »Es übernimmt den Menschen, Frau Hofrätin! Und so sind denn Frau Hofrätin nun also nach Weimar gekommen, um –«
    »Ich bin«, unterbrach ihn die alte Dame etwas von oben, »nach Weimar gekommen, um nach vielen Jahren meine Schwester, die Kammerrätin Ridel wiederzusehen und ihr auch meine Tochter Charlotte zu bringen, die aus dem Elsaß, wo sie lebt, zu Besuch bei mir ist und mich auf dieser Reise begleitet. Mit meiner Jungfer sind wir zu dritt, – wir können meiner Schwester, die selbst Familie hat, nicht als Logirgäste zur Last fallen. So sind wir im Gasthofe abgestiegen, werden aber schon zu Tische bei unseren Lieben sein. Ist er's zufrieden?«
    »Wie sehr, Frau Hofrätin, wie sehr! – obgleich wir auf diese Weise darum kommen, die Damen an unserer Table d'hôte … Herr und Frau Kammerrat Ridel, Esplanade 6, – o, ich weiß. Die Frau Kammerrätin ist also eine geborene – aber ich wußte es ja! Die Verhältnisse und die Beziehungen waren mir ja bekannt, nur daß ich sie mir nicht gegenwärtig … Du Grundgütiger, die Frau Kammerrätin befand sich also unter jener Kinderschar, die Frau Hofrätin im Vorsaal des Jagdhauses umdrängten, als Werther zum ersten Male dort eintrat, und die ihre Händchen nach dem Vesperbrot streckte, welches Frau Hofrätin …«
    »Mein lieber Freund«, fiel Charlotte ihm wieder ins Wort, »es gab keine Hofrätin in jenem Jagdhause. Bevor Sie nun auch unserm Klärchen, das darauf wartet, gefälligst ihr Kämmerlein {24} zeigen, sagen Sie uns lieber: Ist es weit von hier nach der Esplanade?«
    »Nicht im Geringsten, Frau Hofrätin. Eine Kleinigkeit von einem Wege. Bei uns in Weimar gibt es dergleichen wie weite Wege nicht; unsere Größe beruht im Geistigen. Ich selbst bin mit Freuden erbötig, die Damen vor das Haus der Frau Kammerrätin zu geleiten, wenn Dieselben nicht vorziehen, sich einer Mietskutsche oder Portechaise zu bedienen, woran es in unserer Residenz nicht mangelt … Aber noch eins, Frau Hofrätin, nur dieses Eine noch! Nichtwahr, wenn auch Frau Hofrätin in erster Linie zu Besuch von Dero Frau Schwester nach Weimar gekommen sind, so werden Frau Hofrätin doch zweifellos Gelegenheit nehmen, auch am Frauenplan –«
    »Das findet sich, mein Lieber, das findet sich! Mach er nun und bring' er die Mamsell hier in dem Ihren unter, denn ich werde sie baldigst brauchen.«
    »Ja, und sag' er mir unterwegs«, zwitscherte die Kleine, »wo der Mann wohnt, der den herrlichen ›Rinaldo‹ geschrieben hat, das touchante Romanbuch, das ich wohl schon fünf mal verschlungen, und ob man ihm wohl, wenn man Glück hat, auf der Straße begegnen kann!«
    »Soll geschehen, Mamsell, soll gern geschehen«, erwiderte Mager zerstreut, indem er sich mit ihr zur Tür wandte. Aber hier tat er sich noch einmal Einhalt, stemmte bremsend ein Bein auf den Boden und hielt der Balance halber das andere in die Luft.
    »Auf ein Wort noch, Frau Hofrätin!« bat er. »Auf ein einzig letztes und rasch zu beantwortendes Wörtchen! Frau Hofrätin müssen begreifen – Man steht unverhofft vor dem Urbilde, es ist einem beschieden, an der Quelle selbst – Man muß es wahrnehmen, man darf es nicht ungenutzt – Frau Hofrätin, nichtwahr, jenes letzte Gespräch vor Werthers Abreise, jene herzaufwühlende Szene zu dritt, wo von der seligen Mutter die Rede {25} war und von der Todestrennung und Werther Lottens Hand festhält und ausruft: ›Wir werden uns wiedersehn, uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns erkennen!‹ – nichtwahr, sie beruht auf Wahrheit, der Herr Geheime Rat hat's nicht erfunden, es hat sich

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