Das Schweigen des Glücks
Prolog
S päter sollte das Unwetter als eines der heftigsten in die Geschichte North Carolinas eingehen. Da es sich 1999 ereignete, betrachteten es einige der zum Aberglauben neigenden Einwohner als Omen – als Anzeichen, dass das Ende der Welt nahte. Andere schüttelten einfach den Kopf und sagten, sie hätten immer gewusst, dass sich so etwas früher oder später ereignen würde. Insgesamt wurden neun Wirbelstürme gezählt, die an dem Abend im Osten des Staates wüteten und an die dreißig Häuser zerstörten. Telefonleitungen lagen in wildem Gewirr auf den Straßen, aus Transformatoren zuckten Flammen, ohne dass jemand etwas dagegen tat. Tausende von Bäumen wurden umgerissen, Springfluten überschwemmten die Ufer der drei größten Flüsse und ganze Lebensläufe wurden durch ein jähes Aufbäumen der Natur aus der Bahn geworfen.
Es hatte ganz unvermittelt begonnen. In einem Moment war es bewölkt und dunkel, aber im Rahmen des Normalen; im nächsten Moment fuhren aus dem frühsommerlichen Himmel Blitze hernieder, Sturmböen tobten und sintflutartige Regenfälle gingen zu Boden. Die Front war aus dem Nordwesten herangezogen und durchquerte den Staat mit einer Geschwindigkeit von fast vierzig Meilen in der Stunde. Plötzlich brachten die Radiosender Warnungen und berichteten über das Ausmaß des Unwetters. Wer konnte, suchte Schutz im Haus, aber wer mit dem Auto unterwegs war, wie Denise Holton, dem war diese Möglichkeit versagt. Sie war mitten in das Gewitter geraten und hatte keine andere Wahl als weiterzufahren. Zwischendurch regnete es so heftig, dass die Autos die Geschwindigkeit auf fünf Meilen pro Stunde drosseln mussten. Denise hielt das Steuerrad umklammert, die Fingerknöchel traten weiß hervor und ihr Gesicht war starr vor Konzentration. Manchmal war es unmöglich, den Straßenverlauf durch die Windschutzscheibe zu erkennen, aber anzuhalten würde die sichere Katastrophe bedeuten, weil hinter ihr andere Autos fuhren, die ihren Wagen nicht rechtzeitig erkennen würden. Sie streifte sich den Schulterriemen ihres Sicherheitsgurtes über den Kopf ab und beugte sich angestrengt über das Steuerrad, um die durchbrochene Linie auf der Fahrbahn auszumachen. Hin und wieder sah sie einen Streifen. Zeitweise hatte sie das Gefühl, sich allein von ihrem Instinkt leiten zu lassen, weil einfach nichts zu sehen war. Wie eine Meereswelle ergoss sich der Regen über ihre Windschutzscheibe und verschleierte den Blick fast vollständig. Ihr kam es vor, als nützten die Scheinwerfer rein gar nichts. Am liebsten hätte sie gehalten, aber wo? Wo wäre sie sicher? Auf dem Randstreifen? Die anderen Fahrer hatten auch alle Mühe, die Spur zu halten, sie sahen genauso wenig wie Denise. Spontan entschied sie sich weiterzufahren – das schien ihr alle Mal sicherer. Ihre Augen sprangen von der Fahrbahn zu den Rücklichtern der Wagen vor ihr und zum Rückspiegel; sie hoffte und betete, alle anderen würden das auch so machen und fortwährend nach Orientierungspunkten suchen, welcher Art auch immer.
Und dann, ebenso plötzlich, wie alles begonnen hatte, ließ das Unwetter nach und man konnte wieder sehen. Sie vermutete, dass sie den Rand der Wetterfront erreicht hatte. Die anderen Fahrer kamen offenbar zu dem gleichen Schluss. Trotz der vom Regen glitschigen Fahrbahn beschleunigten sie und versuchten, dem Unwetter davonzufahren. Auch Denise beschleunigte und hielt das Tempo. Zehn Minuten später – der Regen hatte nicht aufgehört, ließ aber immer mehr nach – warf sie einen Blick auf die Benzinanzeige und spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie würde bald anhalten müssen. Das Benzin reichte nicht für den Rest des Weges nach Hause.
Minuten vergingen.
Der Verkehr nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war Neumond und praktisch stockdunkel. Sie warf wieder einen Blick auf das Armaturenbrett. Die Nadel auf der Benzinanzeige zitterte tief im rot schraffierten Bereich. Obwohl sie den Vorsprung vor dem Unwetter halten wollte, drosselte sie die Geschwindigkeit und hoffte, dadurch Benzin zu sparen. Sie hoffte, es würde reichen. Sie hoffte, dem Unwetter voraus bleiben zu können.
Die anderen Autos fingen an zu rasen und spritzten riesige Fontänen gegen ihre Windschutzscheibe, ihre Scheibenwischer sausten hin und her. Sie fuhr und fuhr.
Weitere zehn Minuten vergingen, bevor sie erleichtert aufatmete. Eine Tankstelle, weniger als eine Meile vor ihr, so zeigte das Schild es an. Sie setzte den Blinker,
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