Lucifer - Traeger des Lichts
1
Der Mann in Schwarz
»Ein Adler mit Angst vorm Fliegen.« So das Urteil eines seiner Kollegen über Sam Linnfer. »Wahrscheinlich hat er auch noch irgendwo eine Leiche im Keller versteckt.«
Wie alle Gerüchte, so fand auch dieses irgendwann seinen Weg zurück zu Sam und zauberte ein breites Grinsen auf sein jungenhaftes Gesicht.
Wenn es eines gab, was Sam an seiner Arbeit liebte, dann war es das Geheimnis, das ihn in den Augen anderer Leute umgab. Es verschaffte ihm große Befriedigung, dieselben Züge zu benutzen, dieselben Mahlzeiten zu essen, an denselben Bushaltestellen zu warten und dabei doch immer über allem zu stehen, und sei es nur in den wilden, fantastischen Geschichten, die man über ihn erzählte.
Obwohl Sam in der Tat anders war, schien ihn jeder in der Universität irgendwie gut zu kennen. Sein aufblitzendes Lächeln und sein Mangel an Ehrfurcht gegenüber Respektspersonen machten ihn bei den Studenten beliebt, und offensichtlich langweilte ihn schon der bloße Gedanke an ein Leben, wie es die Professoren führten, bestimmt von einem täglichen Ritual, dessen Höhepunkt im Austausch von lateinischen Wortspielen zu bestehen schien, wenn sie im Speisesaal Hof hielten. Doch entsprach Sam auch nicht wirklich dem Bild eines Studenten, denn trotz seiner augenscheinlichen Jugend umgab ihn ein Hauch von Autorität, die einer langen, in keinem Lied besungenen Geschichte entstammte.
Meist trug er Schwarz - eine zugeknöpfte schwarze Jacke über einem ausgebeulten schwarzen Pullover und darunter
ein formloses schwarzes Hemd. Er trug die schäbigen Kleider als eine Art Schutzpanzer, den noch keiner durchdrungen hatte. Viele stellten Vermutungen an, was er wohl unter all diesen Schichten von Kleidung verbergen mochte. Die meisten von ihnen lagen falsch. Der Gedanke, dass er aus Eitelkeit Schwarz trug, überlebte nie eine erste Begegnung: Zu diesen Kleidern gehörten ein Paar uralte Turnschuhe und ein verfilzter blaugrauer Schal, den irgendeine unbekannte Person mal für ihn gestrickt hatte. Das Bild wurde vervollständigt durch Manschetten, die nie geschlossen waren, Hemdknöpfe, die nicht zueinander passten, und manchmal ein geflicktes Jackett, das ihm das Aussehen einer modebewussten Vogelscheuche gab.
Um diesen Charakter, dessen Widersprüche andere Menschen so anzogen, abzurunden: Er hatte dichtes schwarzes Haar und Augen so dunkel, dass auch sie fast schwarz wirkten. Nicht dass viele ihnen lange genug standgehalten hätten, um dies bestätigen zu können, denn Sams Blick war von einer Intensität ohnegleichen. Seine Stimme hatte einen ganz leichten Akzent, wenngleich niemand sicher war, woher dieser Tonfall kam. Einige sagten, er sei nordenglisch; andere meinten, dass eine Spur Gälisch darin liegen müsse. Irgendwann schrieb man ihm den Hauch eines walisischen Akzents zu, was das Gerücht in die Welt setzte, er sei in den wilden Bergen am Mount Snowdon aufgewachsen. Ein paar schworen, er müsse ein Zigeuner sein. Sam selbst, wenn man ihn über seine Vergangenheit befragte, gab nur ausweichende Antworten.
Was das Geheimnis noch vertiefte, war die Tatsache, dass Sam auch eine Kenntnis ungewöhnlicher Sprachen an den Tag legte. Einmal war ein Wissenschaftler aus Indien zu Besuch, auf einem bezahlten Trip von jener Art, die Akademiker gern »Forschungsreise« nennen. Sam, der zufällig mitbekam, wie der Gast im Gespräch über einen englischen Begriff stolperte, war nicht nur imstande, mit dem korrekten Wort in Hindi auszuhelfen, sondern fügte auch noch ein paar Erklärungen in dieser Sprache hinzu. Nachdem etwas in dieser Art zum dritten Mal vorgekommen war, immer in einer exotischen Sprache, war dies tagelang Gesprächsthema gewesen.
Über Sams genauen Status an der Universität herrschte Unklarheit. Er hielt keine Seminare ab und korrigierte keine Hausarbeiten. Doch als eines Tages ein überarbeiteter Ordinarius bei einer schwierigen Frage über die traditionelle Verehrung der Erdmutter Gaia hatte passen müssen, war Sam es gewesen, der sie beantwortet hatte. Dies war der Beginn einer ungewöhnlichen Beziehung gewesen, wobei Sam gegen unbegrenzten Zugang zu den Universitätseinrichtungen bei der Abfassung von wissenschaftlichen Arbeiten half, die ansonsten wochenlange Recherchen in Anspruch genommen hätten. Institute, die sich mit alten Kulturen oder fremden Völkern befassten, begannen sein immenses Wissen anzuzapfen und zählten auf seine Fähigkeit, im Handumdrehen irgendwelche
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