Ludlum Robert - Covert 02
war. Er nahm den Regenschirm, ging auf den Mann zu und musterte dabei sein Gesicht mit den hohen Backenknochen und den auffallend blauen Augen.
»Ich heiße Barnes und bin hier der Wärter. Wenn Sie mir sagen, wen Sie aufsuchen wollen, kann ich Ihnen die Mühe ersparen, in dem Matsch hier herumzustapfen.«
»Sophia Russell.«
»Russell haben Sie gesagt? Kann mich im Augenblick nicht erinnern. Lassen Sie mich nachsehen. Es dauert bloß einen Moment.«
»Machen Sie sich keine Umstände. Ich finde mich schon zurecht.«
»Ich muss Sie trotzdem ins Besucherbuch eintragen.«
Der Mann spannte den Regenschirm auf. »Jon Smith. Dr. Jon Smith. Ich weiß schon, wo ich sie finden kann. Vielen Dank.«
Der Wärter glaubte eine kurze Unsicherheit in der Stimme des anderen zu hören. Er hob den Arm und wollte ihm schon etwas nachrufen, aber der Mann hatte sich bereits mit langen, zielstrebigen Schritten in Bewegung gesetzt, ging so, wie Soldaten das tun, und war gleich darauf in den grauen Regenschwaden verschwunden.
Der Wärter starrte ihm nach. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken und ließ ihn zusammenzucken. Er kehrte in das kleine Wachhäuschen zurück, schloss die Tür ab und verriegelte sie fest.
Dann holte er das Besucherbuch von seinem Schreibtisch, klappte es auf und trug bedächtig den Namen des Mannes und den Zeitpunkt seiner Ankunft ein. Einem plötzlichen Impuls folgend klappte er die hintere Hälfte des Buches auf, wo die Begrabenen in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet waren.
Russell… Sophia Russell. Da ist sie: Reihe 17, Platz 12. Beerdigt… vor genau einem Jahr!
Drei Trauergäste hatten damals im Register unterschrieben, und einer davon war Jon Smith, M.D. Warum haben Sie dann keine Blumen mitgebracht?
Smith war für den Regen dankbar, als er auf dem gewundenen Weg Ivy Hill durchquerte. Er war wie ein Grabtuch, spannte sich über Erinnerungen, die immer noch wehtaten, Erinnerungen, die ihn das ganze letzte Jahr nicht losgelassen, die ihm nachts zugeflüstert, seine Tränen verspottet und ihn gezwungen hatten, jenen schrecklichen Augenblick immer wieder aufs Neue zu durchleben.
Er sieht den kalten, weißen Raum in dem Krankenhaus des Militärischen Forschungsinstituts für Infektionskrankheiten in Frederick, Maryland, vor sich. Sophia liegt vor ihm, die Frau, die er liebt, die Frau, die er heiraten will. Er sieht, wie sie sich unter dem Sauerstoffzelt windet, keuchend um Atem kämpft. Nur wenige Schritte ist er von ihr entfernt, und ist doch machtlos, kann ihr nicht helfen. Er schreit auf das Krankenhauspersonal ein, aber seine Schreie hallen von den Wänden wider, als wollten sie ihn verspotten. Sie wissen nicht, was ihr fehlt. Sie sind ebenso machtlos wie er.
Plötzlich stößt sie einen Schrei aus - Smith hört ihn immer noch in seinen Albträumen und betet darum, ihn nie wieder hören zu müssen. Ihr Rücken, angespannt wie ein Bogen, bäumt sich in einem unmöglichen Winkel auf; Schweiß strömt ihr aus allen Poren, wie um ihren Körper von dem Toxin zu reinigen. Ihr Gesicht ist vom Fieber gerötet. Einen Augenblick lang ist sie wie erstarrt. Dann bricht sie zusammen. Blut strömt ihr aus Mund und Nase, und tief aus ihrem Inneren ertönt das Rasseln des Todes, gefolgt von einem sanften Seufzer, als ihre Seele endlich befreit aus dem gemarterten Körper entflieht…
Smith fröstelte und sah sich schnell um. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass er stehen geblieben war. Der Regen trommelte immer noch auf seinen Schirm, schien jetzt aber wie in Zeitlupe zu fallen. Er hatte das Gefühl, jeden einzelnen Tropfen hören zu können, der auf den Nylonstoff klatschte.
Er wusste nicht genau, wie lange er so dastand, einer verlassenen, vergessenen Statue gleich, oder was ihn schließlich dazu veranlasste, weiterzugehen. Er wusste nicht, wie er schließlich den Weg erreicht e, der ihn zu ihrem Grab führte oder wie es dazu kam, dass er plötzlich davor stand.
SOPHIA RUSSELL
JETZT IM SCHUTZ DES HERRN Smith beugte sich vor und strich mit den Fingerkuppen über den glatten, weißrosa Granit des Grabsteins.
»Ich weiß, ich hätte öfter kommen sollen«, flüsterte er. »Aber ich hab es einfach nicht fertig gebracht. Ich dachte, wenn ich hierher komme, müsste ich mir eingestehen, dass ich dich für immer verloren habe. Und das konnte ich nicht… bis heute nicht.
Den ›Hades Faktor‹, so haben sie es genannt, Sophia, dieses Entsetzliche, das dich mir weggenommen hat. Du hast nie die Gesichter der
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