Luegen auf Albanisch
nichts im kommunistischen postkommunistischen Albanien. Ein Amerikaner würde das nicht wissen. Muslim bedeutete Muslim für ihn.
Sie hatte gesagt: »Ich möchte die Welt sehen, angefangen mit Detroit, wo meine Tante lebt.« Der Beamte hatte gelächelt. Wie süß! Das Herz war ihm aufgegangen bei diesem unschuldigen albanischen Mädchen, das Detroit für die Welt hielt. Ein Blick auf Detroit, und sie würde ins erste Flugzeug nach Hause springen und zu einer Rosine verschrumpeln, bevor sie fünfunddreißig war. Lula hatte die Beine von rechts nach links und von links nach rechts übergeschlagen. An der Wand des Visabeamten hing ein Poster von der Freiheitsstatue. Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen. Lula musste ihn davon überzeugen, dass sie nicht bleiben wollte. Jeder belog die Botschaft. Das zählte nicht als Lüge. Seit 9/11 zwangen sie dich zum Lügen, doch das hatte kein albanisches Mädchen und keinen albanischen Jungen davon abgehalten, nach New York gelangen zu wollen.
Der Lexus wendete und fuhr am Haus vorbei.
Mister Stanley hatte Lula ein Handy gegeben, das stets aufgeladen sein sollte, obwohl sie nie jemanden anrief und niemand sie angerufen hatte, nicht seit ihre beste Freundin Dunia das Land verlassen hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Mister Stanley hatte ihr die Festnetznummer einprogrammiert, Mister Stanleys Handynummer und die seiner Arbeitsstelle, Zekes Handynummer und die von Don Settebellos Büro. Sie war der einzige Mensch auf der Welt mit nur fünf Nummern auf ihrem Handy!
Sie war wie das Mädchen im Märchen. Die Prinzessin im Turm. In einer der erfundenen »traditionellen« Volkserzählungen, die sie für Mister Stanley und Don Settebello aufgeschrieben hatte, ging es um eine schöne, in einem Schloss gefangen gehaltene Maid. Ein Prinz sieht sie am Fenster, verliebt sich und verpflanzt, da er sie nicht erreichen kann, eine schnell wachsenden Ranke aus seiner Heimatregion. Die gute Nachricht ist, dass er an der Ranke hinaufklettert und die Maid rettet; die schlechte Nachricht ist, dass die Ranke immer weiter wächst und die örtlichen Bauern in den Ruin treibt, ihre Strafe dafür, die Prinzessin eingesperrt zu haben. Don gefiel diese Geschichte ganz besonders, da sie beweise, wie er sagte, dass indigene Volkskultur die Bedrohung durch Artenimport und Genmanipulation vorausgesehen hätte.
Kommenden Herbst würde Zeke aufs College gehen, und Lula würde sich Gedanken über die nächste Phase ihres neuen amerikanischen Lebens machen müssen. Das hieß, falls die Dinge nach Plan verliefen, wobei Lula nicht hätte sagen können, wie dieser Plan aussah oder wer ihn sich ausgedacht hatte. Sie hatte tausendfünfhundert Dollar gespart, was beruhigend war, doch es war längst nicht die astronomische Summe, wie sie gedacht hatte, bevor sie die Getränkerechnungen im La Changita sah. Sie bewahrte das Geld bar in dem Geheimfach des altmodischen Schreibtisches in ihrem Zimmer auf, dem sogenannten Gästezimmer, wobei Zeke sagte, sie hätten nie Gäste gehabt. Im nächsten September war der Stichtag, ihr angepeilter Termin, von hier fortzugehen. Dann hätte sie fast zwei Jahre in Mister Stanleys Diensten verbracht, eine Tatsache, mit der sie sich nur ungern auseinandersetzte. Sie war zu jung, ihr Leben in ganzen Brocken dahinschwinden zu sehen wie die zerbröselnden Gletscher in den abendlichen Sendungen des Nature Channel.
Der Herbst hatte bereits angefangen, als sie auf Mister Stanleys Anzeige bei Craigslist geantwortet hatte. Dunia war noch im Land, ihre Touristenvisa liefen aus, sie arbeiteten illegal als Kellnerinnen im La Changita nahe des Tompkin Square. Den ganzen Abend lang tranken Lula und Dunia das, was von den lauten, knausrigen Wall-Street-Youngstern in den beschlagenen, mit fröhlichen Affen bemalten Krügen zurückgelassen wurde. Wenn die Besitzer des Lokals, Rattengesicht und Glotzauge, nach Hause gegangen waren, setzte Luis, der Koch, den Bedienungen sein spezielles ropa vieja vor, und alle betranken sich und wetteten darauf, wer als Erster ausgewiesen werden würde.
Sie wussten, dass es kein Spaß war. Am Tag, nachdem Eduardo, der Küchenhelfer, nicht zu seiner Schicht erschien, war seine Frau weinend ins Restaurant gekommen. Eduardo hatte einen Strafzettel bezahlen wollen, und jetzt war er irgendwo zwischen New York und Guerrero (hoffte seine Frau). Tränen quollen durch den Wimpernvorhang ihres kleinen Sohnes. Lula und Dunia, diese mitfühlenden Seelen,
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