Lügenbeichte
Die Terrassentür stand schon weit offen, ein frischer Sommerwind kam ins Zimmer. Thomas saß auf der Terrasse, eine Tasse Kaffee vor sich, und rauchte.
»Guten Morgen, Josefine.«
»Morgen.« Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Kaffee?«
»Später.«
»Hast du gut geschlafen?«
In diesem Moment, als Thomas sie fragte, ob sie gut geschlafen habe, wie er sie immer fragte, wusste sie, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Alles hatte sich verändert. Lou war verschwunden und war zwar wieder da, aber das brachte die Unbeschwertheit nicht wieder zurück, denn es gab noch dieses tote Mädchen, Lilli Sander, keine zwei Jahre älter als Josi, mit dem ihr Vater eine Affäre gehabt hatte. Die ganze Sache war so unwirklich, so fern gewesen, völlig untergegangen in der Angst um Lou. Josi hatte das Gefühl, als sei eine Mauer zwischen ihr und ihrem Vater. Vielleicht war diese Mauer ja immer schon da gewesen, seit der Trennung von Mama, und sie hatte es nur nicht gemerkt.
Sie verstand das einfach nicht, weder früher noch heute: Warum musste Thomas Affären haben? Brauchte er einen Kick? Und wieso ließen sich diese Studentinnen auf einen 46-jährigen Mann ein? Okay, er sah gut aus, groß und schlank mit vollen blonden Haaren. Unddann seine gesellschaftliche Stellung. Damit konnte man anscheinend angeben.
»Wie lange warst du eigentlich mit ihr zusammen?«, fragte sie.
Thomas konnte jetzt nicht ausweichen. Sie spürte genau, wie ihn ihre Frage durch die Mauer hindurch traf. Offiziell wusste sie ja noch keine Einzelheiten. Die wollte sie nun von ihm hören. Er legte den Kopf schräg und kniff die Augen leicht zusammen, wie Herr Werner. »Wie bitte?«
»Wie lange du mit dieser Studentin zusammen warst.«
»Ich war überhaupt nicht mit ihr zusammen«, sagte er barsch. »Es war nur ein feucht-fröhlicher Abend. Wir haben Champagner getrunken und rumgealbert. Alberst du nicht rum? Und dann ist es halt passiert!« Thomas verschränkte die Arme vor der Brust.
»Also wart ihr doch zusammen. Sonst könnte es ja nicht passiert sein.«
»Mein Gott, hör doch mit deinen Wortklaubereien auf. Du bist doch kein Kind mehr.«
»Eben deshalb.«
»Ich habe die ganze Zeit, seitdem ich mit Marina zusammen bin, keine einzige Beziehung gehabt. So. Jetzt weißt du es. Obwohl es dich nichts angeht!«
»Geht es mich auch nicht.«
»Dann hör doch auf damit. Ich habe schon genug Probleme mit Marina, das kannst du mir glauben. Sie flirtet mit jedem rum und führt sich jetzt auf wie eine beleidigte Leberwurst. Es war nur ein Seitensprung, okay?! Was kann ich dafür, dass sie plötzlich tot istund dann noch neben unserem Grundstück gefunden wird. Es ist furchtbar, aber ich habe nichts damit zu tun!«
»Sie war Samstagabend hier.«
»Ich weiß. Das macht alles noch schlimmer.« Er nahm seine Zigarettenschachtel und fischte sich eine Gauloise heraus, zündete sie an und inhalierte tief. »Was wollte sie denn?«
»Hab ich Herrn Werner doch schon gesagt. Sie hat nach dir gefragt.«
»So eine bodenlose Frechheit, zu mir nach Hause zu kommen, am Samstagabend!« Er nahm wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schaute an Josi vorbei.
Josi stand auf. »Ich mach mir Frühstück. Essen wir wenigstens was zusammen?«
»Nein. Danke«, sagte Thomas. »Ich kann jetzt nichts essen.«
7:57
Josi ging in die Küche und goss sich einen Orangensaft ein. Auf der Anrichte standen noch die Muffins. Sie warf sie weg. Sie würde neue mit Lou backen. Als sie mit einem Müsli und dem Orangensaft wieder auf die Terrasse kam, saß Thomas immer noch da. Er hatte sich inzwischen eine neue Zigarette angezündet. »Rauch nicht so viel«, sagte Josi und rührte ihr Müsli um. »Das macht alt und hässlich.«
»Bin ich doch schon«, sagte Thomas. Es war das erste Mal, dass sie ihn verzweifelt sah. Am liebsten hätte sieihn jetzt in den Arm genommen, aber er war am Rauchen. Dann ließ er nichts an sich heran – außer seiner Zigarette.
12:18
Lou hatte ins Bett gepullert. Frau Riesheimer-Bricket, die Kinderärztin, sagte, das sei unter »diesen Umständen« ganz normal. Schließlich sei er völlig aus seinem Leben herausgerissen worden. Aber man habe ihm keine körperliche Gewalt angetan, ihm jedoch Tabletten gegeben, Sedativa, um ihn ruhigzustellen, wodurch er immer noch ein bisschen orientierungslos wirkte und wohl diese Erinnerungslücken habe. Außerdem habe er wahrscheinlich viel zu viel Süßigkeiten, insbesondere weiße Schokolade, gegessen.
Weitere Kostenlose Bücher