Luzifer
geschritten war, als sie sich der Geräuschquelle näherte.
Das Summen hatte sich verändert. Nun vernahm sie den Gesang aus zahlreichen Kehlen, ohne allerdings die Sänger entdecken zu können. Nur Männerstimmen sangen. Keine einzige Frauenstimme schickte ihren hellen Sopran über die tiefen Stimmen hinweg.
Jane wurde vom Gesang der Männerstimmen angelockt. Sie schritt ihnen entgegen. Sie blühte dabei innerlich auf. Sie wollte wissen, wer sie lockte.
Jane ließ sich nicht aufhalten. Der Nebel umfing sie, schob sie weiter oder umwallte sie wie eine Kleid.
Plötzlich konnte sie sehen und erkennen!
Innerhalb der Bläue zeichnete sich etwas ab. Ein noch dunkleres, fast schwarzes Gebilde, das am Boden des Ganges begann und hochreichte bis zur einer für sie nicht sichtbaren Decke oder in den Nebel hinein. Eine Mauer, ein Tor, eine Tür? Vielleicht ein Durchgang in die Ewigkeit?
Jane Collins wußte es nicht. Sie konzentrierte sich allein auf das Hindernis, hinter dem der monotone Gesang seine Quelle besaß. Jane ging selbst, aber sie bekam den Eindruck, als würde die Tür oder die Mauer auf sie zukommen. Es war unheimlich, die Sperre tanzte und bewegte sich innerhalb der wallenden Schleier.
Vor der Mauer blieb Jane stehen.
Sie spürte nicht, daß sie atmete. Sie kam sich vor wie ein Geistwesen, das keine Luft mehr zu holen braucht. In der rechten Hand hielt sie das lange Messer, die linke aber hob sie, wie auf einen Befehl hin. Sie wollte klopfen.
Dazu kam sie nicht mehr. Die Tür schwang, wie von Geisterhänden gezogen, auf. Sie glitt nach innen, hinein in den Raum oder das Gewölbe, das hinter dieser geheimnisvollen Tür lag. Ein zögernder Schritt brachte Jane Collins auf die Schwelle der Tür. So blieb sie stehen und schaute in eine lichtlose, dennoch erkennbare Kälte hinein, wo sich die Anwesenden wie Schatten bewegten, als wären sie die Projektionen derer, die auf der normalen Welt lebten und dort ihrer Tätigkeit nachgingen.
Es war ein anderes, ein fremdes Reich, das sich ihr eröffnet hatte. Furchtbar und menschenfeindlich. Grausam, abstoßend und abweisend, dennoch lockend.
Ihr Blick glitt langsam in die Runde.
Die Gestalten waren nur mehr als Schatten für sie erkennbar. Sie hatten allesamt eine bestimmte Position eingenommen, saßen in einem Halbkreis und sangen.
Bisher hatte Jane den Gesang nur als fernes Rauschen vernommen. Zum erstenmal hörte sie ihn aus der Nähe, und sie empfand ihn wie einen mächtigen akustischen Orkan, der sie umtobte, als wollte er sie von der Türschwelle fortreißen.
Ein Gesang aus den Kehlen der erstarrt dastehenden Schatten. Ein unheimliches Brausen, furchtbar und nicht mit den Gesängen zu vergleichen, die Kirchen und Tempel erfüllen. Nein, diese Stimmen waren dumpf.
Jede einzelne von ihnen möglicherweise leise, so als würde sie aus der Tiefe eines Grabes an die Oberfläche steigen.
Die schreckliche Monotonie, das furchtbare Brausen jagte in ihren Kopf, füllte ihn bis in jeden Winkel aus und schien sie selbst hochheben zu wollen, um sie hineinzuzerren in eine Welt ohne Anfang, Ende und auch ohne Grenzen.
Was vor ihr lag, wußte sie nicht, aber sie umklammerte den Griff des Messers härter, so daß ihre Knöchel spitz hervorstachen und so wirkten, als wollten sie die dünne Haut sprengen.
Da war wieder der Befehl aufgeklungen.
Er galt ihr — und dem Messer!
Sie ging weiter. Ihr Körper zuckte, als sie den ersten Schritt über die Schwelle trat. Das Gesicht war starr, auch ihre Augen bewegten sich nicht. Zwei fest zusammengepreßte Lippen bildeten den Mund. Jane kam sich vor wie eine Statue oder wie eine der schattenhaften Gestalten, die trotz allem lebten.
Die Monotonie des Gesangs änderte sich kaum. Sie blieb stets auf dem gleichen Level, mal schwang sie etwas an, ansonsten überwogen die tiefen, düsteren Töne.
War es überhaupt ein Raum, in den sie schaute? Mauern konnte Jane so gut wie keine erkennen. Er schien begrenzt und gleichzeitig grenzenlos zu sein, wie eben das All, das Wissenschaftler auf diese Art und Weise zu erklären versucht hatten.
Das All im kleinen. Durchsetzt von den Gedanken des Bösen, des Chaos, einfach der Ordnung des Teufels.
Jemand bewegte sich vor ihr. Der Schatten zuckte herum, als würde ein Reflex über einen Spiegel huschen. Jane hatte nicht gesehen, ob er ihr das Gesicht oder den Hinterkopf zugedreht hatte, jedenfalls besaß er menschliche Umrisse.
Er kam auf sie zu.
Nicht gestaltlos, wie die Wesen des Spuks,
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