M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
ihre Stimmenhoheit fürchteten. Dann hob Süden den Kopf und sah ihnen zu, wie sie mit scheinbar schwerfälligem Flügelschlag ein Baumkrone-wechsele-dich-Spiel begannen, vielleicht mit dem Ziel, den Stillezerstörer abzulenken oder so lange zu nerven, bis er einsah, dass dieser Flecken Friedhof keine Bühne für zweibeinige Selbstdarsteller war.
Von Jugend an hielt Süden Krähen für Abgesandte der Unterwelt. Er war überzeugt, sie würden jedes Wort verstehen und nachts, wenn die Friedhofstore geschlossen waren, im roten Flackern der Kerzen den Gesang der Toten hören und ihre Stimmen einstudieren, um damit tagsüber die Trauernden zu trösten oder sie auszulachen. Süden ließ sich nicht stören. Er redete hinauf zum Geäst oder beugte sich zu einer Krähe hinunter, die beflissen vor ihm herhüpfte, als wollte sie ihm den Weg zum Ausgang weisen.
Immer aber kehrte er zu der kleinen Mauer und den Büschen zurück. Dort hinterließen Angehörige in ihrer Ratlosigkeit Bilder und Geschenke, Figuren aus Holz oder Plastik, eingeschweißte Fotos der Verstorbenen, Kerzen und Blumensträuße. Grabschmuck für unsichtbare Gräber, Beschwörungsrituale in einem All aus Unverständnis.
Mehrere Male hatte Süden miterlebt, wie eine Frau ihre verstorbene Schwester beschimpfte, weil diese »sich einfach davongemacht« hätte, »ohne Rücksicht auf uns alle, und bei Nacht und Nebel in der Erde verscharrt wie ein Hund«. Und ein alter Mann schlug bis zur Erschöpfung mit seinem Krückstock auf die Erde ein, stieß Flüche und einen Namen aus, den Süden auf die Entfernung nicht verstand, und hörte nur auf, weil ein Hustenanfall ihn dazu zwang und er seinen Stock verlor, nach dem er sich mühsam bücken musste.
Von einem der in dunkles Grau gekleideten Grabmacher – Süden nannte sie nach wie vor Totengräber – hatte er erfahren, dass die Zahl der anonymen Beisetzungen stetig ansteige, mittlerweile seien es knapp neunhundert im Jahr. »Die Leut’ wollen halt niemand zur Last fallen.«
Auch sein Vater, dachte Süden, wollte niemandem zur Last fallen, schon zu Lebzeiten nicht. Deswegen war Branko Süden damals verschwunden, weil er seinem Sohn seine innere Not nicht länger zumuten wollte. Und doch hatte er gerade durch sein Abtauchen in die Anonymität die Last ins Unermessliche gesteigert – zumindest zwei Jahre lang, bis Tabor achtzehn wurde und seine erste eigene Wohnung in der Stadt bezog, gemeinsam mit Martin, seinem Schwellenwächter.
Vorwürfe machte er seinem Vater schon lange nicht mehr. Nur geredet hätte er gern mit ihm. Hätte ihm gern zugehört. Hätte gern etwas erfahren. Vater-Sohn-Sachen, sagte er zur Luft, zu seinen Schuhen, zur Krähe in der Nachbarschaft. Dabei wusste er aus seiner zwölfjährigen Erfahrung als Vermisstenfahnder bei der Kripo, dass die so beschworenen Vater-Sohn- oder Mutter-Tochter- und Kind-Familien- und Bruder-Schwester-Sachen meist Illusionen blieben, ausgelöst durch Tod oder Verschwinden, durch die Pflicht, das Leben in unverschuldeter Verlorenheit weiterführen zu müssen.
Sechzehn Jahre, dachte Süden, hätte er Zeit gehabt, mit seinem Vater zu sprechen. Sechzehn Jahre lebten sie beide unter einem Dach. Sechzehn Jahre lang passierte nichts anderes, als dass der Vater sein Schweigen dem Sohn vererbte und der Sohn dem Vater zu jedem Geburtstag einen Korb voller Nachsicht schenkte und beide einander umarmten. Nach dem Tod der Mutter wurde das Erbe des Vaters noch bedeutsamer, das Geschenk des Sohnes noch hingebungsvoller, und sie umarmten einander in neuer Nähe, die in Wahrheit nichts als ein Abgrund war. Sie wussten es beide, was also hätte Süden ihm vorwerfen sollen, auf der Wiese der Anonymen? Wo sonst hätte sein unbekannter Vater seine letzte Ruhestätte finden sollen?
Ein Mitbringsel hatte Süden bisher nicht dagelassen. Er wusste nicht, welches. Das einzige Foto, das er von seinem Vater besaß, würde er nicht hergeben. Außerdem – und darauf hatten seine katholische Erziehung und seine Karriere als Ministrant, Süden hatte es bis zum Lektor im Gottesdienst gebracht, seltsamerweise keinerlei Einfluss – misstraute er den meisten Friedhofsbesuchern. Sie klauten. Wer für die Allgemeinheit bestimmte Plastikgießkannen und mit Deckeln versehene Stumpenkerzen von fremden Gräbern mitgehen ließ, der bediente sich erst recht bei den Geschenken für die Anonymen. Und wenn er sich beim letzten Mal nicht verschaut hatte, fehlten diesmal zwei Stoffelche und eine Kerze
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