M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Vorliebe für solche Pullover und fühlte sich wohl darin. Auf Anweisung der Chefin durfte sie sie bei Ermittlungen außer Haus auf keinen Fall tragen, was sie spießig fand. Aber es war eine der Anweisungen, denen man nicht widersprechen durfte.
Über manche Themen, das hatte Patrizia gleich zu Anfang ihrer Tätigkeit als Teilzeitdetektivin begriffen, konnte man mit der Chefin nicht oder nur sehr einseitig diskutieren – über die Wirkung von Kleidungsstücken, den Nutzen von Diäten, die Gefährlichkeit des Rauchens, Politik im Allgemeinen und die Arbeitsweise bestimmter hiesiger Polizisten im Besonderen. Davon abgesehen, schätzte sie das offene Wort, und Patrizia ließ sich in dieser Hinsicht nicht zweimal bitten. In ihrem Elternhaus zählte die freie Meinungsäußerung zu den Grundregeln im Umgang miteinander und mit wem auch immer.
Und die Zahl derer, die damals einen Blick in ihr Kinderzimmer warfen, einen freundlichen Kommentar abgaben und in die Küche zurückkehrten, um dort mit anderen Fremden weiter zu diskutieren, erschien Patrizia mit jedem Jahr unübersichtlicher. Flur, Wohnzimmer, Küche und Balkon verwandelten sich ständig in einen Marktplatz aus Stimmen von Leuten, die offensichtlich nirgendwo sonst zu Wort kamen. Patrizia vergaß ihre Namen im selben Moment, in dem sie sie hörte. Wenn sie nachts im Bett lag und darüber nachdachte, wer diese langhaarigen und bärtigen Männer und buntgekleideten Frauen mit den vielen Halsketten überhaupt waren, kam manchmal ihre Mutter herein, setzte sich zu ihr und sagte Sätze wie: Wir reden über den gefährlichen Schah und seine Verbündeten, mach dir keine Sorgen. Oder: Der Schah ist ein Verbrecher, aber du brauchst keine Angst zu haben. Oder: Der Schah ist gestorben.
Für die vierjährige Patrizia musste dieser Schah ein Bruder von diesem Strauß sein, den die Erwachsenen auch immer als gefährlichen Verbrecher und schlimmen Menschen bezeichneten. Beim Einkaufen geriet ihre Mutter regelmäßig in Streitereien mit Angestellten oder Kunden, die anscheinend falsche Sachen sagten. Ihre Mutter redete auf sie ein und ließ sich von ihnen beschimpfen, was ihr nichts auszumachen schien. Auf der Straße strich sie ihrer Tochter über den Kopf und meinte nur: Man muss sagen, was man denkt, sonst wird man krank. Diesen Satz, der zu einer Art Mantra ihrer Kindheit und Jugend wurde, hatte Patrizia sich eingeprägt. Als sie, mit fünfzehn oder sechzehn, zum ersten Mal nachts in die Küche stürmte und laut und vernehmlich um absolute Ruhe bat, weil sie nämlich schlafen wolle und ein Recht auf die ungestörte Entwicklung ihrer Persönlichkeit habe, erntete sie grimmige Kommentare und gnädiges Nicken. Ein paar Minuten später kam ihre Mutter ins Zimmer, setzte sich auf die Bettkante, gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und bat im Namen aller um Entschuldigung. Sie fügte jedoch hinzu, dass sie in einem offenen Haus lebten, in dem es halt manchmal turbulent zugehe und die Gäste ihr Herz auf der Zunge trügen. Patrizia war es egal, wo die Leute ihr Herz trugen, Hauptsache, sie hielten ihre Zunge im Zaum.
Das »Haus« war eine Vierzimmerwohnung, in dem jedes Zimmer eine Tür zum Zumachen hatte. So etwas sagte sie aber nicht, weil sie festgestellt hatte, dass ihr das ständige Kommen und Gehen auf eine ihr nicht ganz begreifliche Weise Freude bereitete und sie es im Skilager oder im Sommercamp ziemlich vermisste. Auch hatte sie sich angewöhnt, vor Lehrern in der Klasse und auf dem Pausenhof ungeniert ihre Meinung kundzutun. Je heftiger sie dafür gescholten wurde, desto unerschrockener meldete sie sich zu Wort. Erst in ihrer Funktion als Klassensprecherin und schließlich Schulsprecherin erntete sie uneingeschränktes Lob für ihr offenes, unbestechliches, streitlustiges und konstruktives Auftreten. Als im Lokalteil einer Tageszeitung ein Artikel über sie und ihre mögliche Zukunft als Pädagogin oder Politikerin erschien, stellte sie fest, dass sie – wie sie sich gegenüber einer Freundin ausdrückte –, »null nada Interesse am Wichtigsein« hatte.
Sie ließ sich nichts gefallen, das war alles. Sie hasste es, »wenn wer mit seinen Gefühlen und Gedanken rumtrickst«, und sie stellte so jemanden gern zur Rede. Aber sie verfolgte kein Ziel damit. Sie wollte niemanden belehren oder ändern, sondern bloß »gradraus« sein. Ihr künftiges Leben stellte sie sich in einem überschaubaren Kosmos aus Ehrlichkeit, Gradlinigkeit und entspannter gegenseitiger
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