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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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zu verbringen. Sie war, gerade volljährig, sogar verheiratet gewesen und entschlossen, eine Familie zu gründen, Kinder zu bekommen, eine unzerstörbare Gemeinschaft zu bilden. Dass nichts daraus wurde, lag an ihr, das wusste sie, auch wenn ihr Mann das Gegenteil behauptete und sich selbst die Schuld gab. Lange her und alles vorbei, dachte sie.
    Es war nicht vorbei. Dieser sechzehn Jahre ältere Mann mit der rauhen Stimme und den blauen Augen und dem mächtigen, machtvollen Körper löste ein vergessenes Brennen in ihr aus und beschwor Wünsche herauf, die sie so unerbittlich quälten wie sein abruptes, beleidigendes Verschwinden. Sie hätte begreifen müssen – wachsam und schlau, wie sie glaubte zu sein –, dass ihre Hingabe an diesen Mann niemals ausreichen würde, ihr inneres Leben zu ändern, neu zu erschaffen.
    Doch Mia Bischof war so ergriffen von der Wahrhaftigkeit ihres Verlangens, dass sie am Morgen des 30. Januar beschloss, eine Detektei, deren Adresse sie aus dem Internet hatte, aufzusuchen und jedes Honorar für die Suche nach ihrem Liebsten zu bezahlen.
    Das Ausmaß ihrer Selbsttäuschung hätte sie niemals für möglich gehalten.

3
    H inter dem chaotisch anmutenden Schreibtisch der Chefin saß ein schmächtiger, grau gekleideter alter Mann mit einer Hornbrille aus den sechziger Jahren und kurzen, nach hinten gekämmten graubraunen Haaren. Sein lächelnder Gesichtsausdruck wirkte im Vergleich zu seiner Erscheinung – billige Windjacke, billiges Hemd, billige Hose – geradezu farbig. Leonhard Kreutzer war achtundsechzig, Witwer. Früher betrieb er gemeinsam mit seiner Frau ein gutgehendes Schreibwarengeschäft, das er nach einem Herzinfarkt aufgeben musste. Wenig später verstarb seine Frau, Leonhard Kreutzer zog in einen anderen Stadtteil und begann, die Stunden des Tages zu zählen, und die Minuten der Nacht. Aus der Mitte seiner Einsamkeit entsprang ein Fluss aus Langeweile, von dem er sich treiben ließ, bis er einen Anruf erhielt und zu einer Einweihung eingeladen wurde.
    Die Frau, die am Sendlinger-Tor-Platz eine Detektei eröffnete, kannte er noch aus seiner Zeit im Laden, wo sie für ihren Sohn Ingmar Schulsachen und Comic-Hefte kaufte und eine seiner Stammkundinnen war. Nach Ingmars Tod kam sie seltener, manchmal nur, um ein paar Worte zu wechseln. Auf der Beerdigung von Kreutzers Frau hielt sie am offenen Grab eine Zeitlang seine Hand, was er nie vergessen würde. An jenem Geburtstag der Detektei Liebergesell stand er in einem braunen Anzug mit Bügelfalten lange außerhalb des Kreises von Freunden und Bekannten der Gastgeberin, bevor er sich einen Ruck gab und Edith Liebergesell zum offenen Fenster folgte, vor dem sie sich eine Zigarette anzündete – die vierte innerhalb der vergangenen sechzig Minuten, wie er genau beobachtet hatte. Was er ihr vorschlug, schien sie zunächst zu amüsieren. Dann aber hörte sie ihm anders zu, sah ihn lange an, drückte die Zigarette im Glasaschenbecher auf dem Fensterbrett aus, nahm seine Hand, drückte sie fest und sagte: »Auf geht’s, Leo, versuchen wir’s.«
    Von diesem Moment an waren sie per Du, und Leonhard Kreutzer hatte einen neuen Job als Detektiv. Aufgrund seines verhuschten Wesens, wie er es nannte, hielt er sich für einen idealen Beschatter, einen aus der grauen Masse, der kein Aufsehen erregte und den später niemand beschreiben könnte. Tatsächlich führte er bald äußerst zielführende Beschattungen durch. Er begann, behutsam zu joggen, um seine Kondition zu verbessern. Er gewöhnte sich sogar – nach wochenlanger, nervenzehrender Pfriemelei und auch eher freudlos und ausschließlich bei heiklen Einsätzen – an das Tragen weicher Kontaktlinsen. Außerdem entpuppte er sich als feinsinniger Zuhörer und geschickter Fragensteller bei Kindsvermissungen, wenn die Eltern sich entweder in Panik oder aus Berechnung um Kopf und Kragen redeten.
    Ursprünglich hatte Edith Liebergesell die Idee gehabt, den Arbeitsschwerpunkt der Detektei auf die Suche nach verschwundenen Kindern und Jugendlichen zu legen. Bald musste sie einsehen, dass sie damit nicht überleben konnte. Auch wenn manche verzweifelte Eltern mit der Arbeit der Polizei unzufrieden waren, investierten sie nur widerstrebend fünfundsechzig Euro pro Stunde in einen Detektiv. Eher wandten sie sich übers Internet an private, ehrenamtlich tätige Organisationen. In Einzelfällen reduzierte Edith Liebergesell das Honorar, wohl wissend, dass sie nur sich selbst und ihren

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