M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
die Frau entweder zu einer eindeutigen und überzeugenden Erklärung gezwungen oder sie längst vor die Tür gesetzt hätte. Mit zusammengepressten Lippen brummte sie leise in sich hinein, zwischendurch trommelte sie mit den Fingern auf den Computer.
Bei Süden dagegen führte das unentschlossene, anstrengende Verhalten der Besucherin zu einer speziellen Form von Gelassenheit, die er von sich nicht kannte. Früher hatte er mit einem Übermaß an Ruhe und Geduld Befragungen durchgeführt, hatte sein Schweigen ebenso mit wichtigen Informationen gefüllt wie mit belanglosen Abschweifungen. Schließlich hatte er seine gesammelten Puzzlestücke zum Bild eines Zimmers zusammengefügt, in dem der beredte Schatten eines Verschwundenen hauste, der ihn vielleicht ans Ziel führte. Dieses Ziel bedeutete das Auffinden, nicht zwangsläufig das Zurückbegleiten des Gesuchten, wenn dieser an seinem neuen, selbsterfundenen Ort wieder zu atmen lernte oder wenigstens zu lächeln. Die Freiheit aufzubrechen hieß für Süden immer auch die Freiheit zu bleiben.
Jetzt, stellte er fest, hörte er zu, durchaus geduldig und konzentriert, aber in guter Distanz, wie es sich für einen professionellen Ermittler gehörte. Er dachte mehr an die materielle Seite des Auftrags als an alles andere. Mia Bischof war im besten Fall eine Klientin, deren Auftrag erfolgreich zu Ende gebracht werden musste, und nicht eine weitere Bewohnerin jener Verliese, mit deren Ausleuchtung Süden sein halbes Leben verbracht hatte.
Er lehnte sich zurück und sagte: »Beschreiben Sie die Anzeichen seiner Veränderung, Frau Bischof.«
Wieder antwortete sie sofort, tonlos wie zuvor. »Er war irgendwie anders als sonst. Er hat keine Antworten mehr gegeben. Ich habe ihn gelassen, ich bin nicht so eine Frau, die einem Mann vorschreibt, was er tun und sagen soll. Ich akzeptiere den Mann, wie er ist. So bin ich, und das ist auch richtig. Er war nicht gewalttätig, er war nie gewalttätig, nie, seit ich ihn kenne. Was ich meine, ist, er ist still gewesen, das war’s, was mir aufgefallen ist. Das können Sie ruhig aufschreiben. Still war er und hat verängstigt gewirkt. Das war ungewöhnlich, denn er ist kein ängstlicher Mann, er ist mutig. Und dann war sein Handy aus, und bei ihm zu Hause war auch niemand. Einen Anrufbeantworter hat er nicht, eine Mailbox schon. Ausgeschaltet. Seinen Chef, den Griechen, habe ich natürlich angerufen, das wollte ich schon genau wissen. Der Grieche sagte, Siegfried sei krank, kommt erst Ende der Woche wieder. Das kann nicht stimmen. Deswegen bin ich zur Polizei gegangen, aber sie haben mich weggeschickt, er sei erwachsen, er könne tun, was er will. Das stimmt, ich gebe den Polizisten recht. Aber dass er so still geworden ist, hat mich beunruhigt. Deswegen sitze ich jetzt wohl hier. Seine Adresse und seinen Arbeitgeber habe ich Ihnen auf einen Zettel geschrieben. Wenn Sie Siegfried finden, wäre ich Ihnen wirklich dankbar.«
Nach Tausenden von Vermissungen, die er bearbeitet hatte, konnte Süden sich an keinen vergleichbaren Satz eines besorgten Angehörigen oder Freundes erinnern. »… wär ich Ihnen wirklich dankbar.« Kreutzer und Patrizia sahen ihn an, als erwarteten sie eine Erklärung. Er sagte: »Wir verlangen fünfundsechzig Euro in der Stunde und einen Euro Kilometerpauschale.«
»Das hat mir Ihr Kollege am Telefon gesagt. Muss ich eine Anzahlung machen?«
»Sie müssen erst einmal nur den Vertrag unterschreiben.«
Kreutzer schlug das Blatt um, das er gerade beschrieben hatte, und legte den Bleistift parallel daneben. Dann zog er, ohne das darüberliegende Branchenbuch wegzunehmen, eine Vertragskopie aus der Plastikablage auf dem Schreibtisch.
»Und wenn Sie Siegfried nicht finden, muss ich trotzdem zahlen«, sagte Mia Bischof.
»Ja.« Wenigstens ein winziges Wort musste Patrizia von sich geben, mit angemessener Betonung und dem unüberhörbaren Unterton: Was denn sonst? Ihre Hände klebten am Laptop, ihre Daumen trommelten wieder. Nichts davon schien Mia Bischof zu bemerken. Der Reißverschluss ihrer Jacke hatte sich im Futter verklemmt, sie zerrte daran herum, bis sie ihn mit einer heftigen Bewegung nach unten zog und sofort wieder nach oben. Wie Süden und Patrizia feststellten, hatte sie eine Zahl auf ihren Pullover gestickt. Unabhängig voneinander waren beide überzeugt, dass Mia den Pullover, wie auch die Mütze, selbst gestrickt haben musste. Garantiert hatte sie ein Faible für Handarbeiten. Woher sie das zu wissen
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