M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Befeuerung vor.
Zwar hatte sie ihr Studium abgebrochen (Deutsch, Theaterwissenschaft, Englisch); zwar hielt ihre Verlobung mit einem Schriftsteller nur fünf Monate; zwar hatte sie die Ausbildung zur Hotelkauffrau nach einem Jahr wegen allgemeiner Unentspanntheit und grundsätzlicher Unehrlichkeit einiger Kollegen abgebrochen; und ihre Karriere als DJane und Barfrau hätte sie vielleicht in angesagtere Clubs und in trendigere Städte führen können als ausgerechnet ins Grizzleys in der Münchner Müllerstraße, aber wenn sie heute, mit Mitte dreißig, eine erste Bilanz zog, empfand sie keinen Mangel. Doch die mitternächtliche Begegnung mit der lässig betrunkenen, zielstrebig rauchenden, jeden Anwanzer unaufwendig wegbügelnden Detektivin Edith Liebergesell hatte ihre Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben unter Gleichgesinnten auf eine neue, herausfordernde Ebene katapultiert.
Deswegen lautete das Ziel: die Arbeitszeit in der Bar weiter reduzieren, bis die Chance auf eine Anstellung als dauerhaft feste-freie Mitarbeiterin in der Detektei bestand. Im Kreis von Edith Liebergesell, Leonhard Kreutzer und Tabor Süden hätte Patrizia Tag und Nacht observieren, recherchieren und vor Ort ermitteln können, so sehr entsprach diese Gemeinschaft ihrem Nähe-Empfinden. Und wenn Süden, dachte sie, weniger schweigen und sich öfter mal auf einen wilden Disput einlassen würde, hätte sein ungelenkes Flirten eine echte Aussicht auf Erfolg, auch ohne Pullover.
Die Frau mit den Zöpfen, die an diesem Montag hereinkam, hielt sie vom ersten Augenblick an für unaufrichtig, auch wenn sie nicht den geringsten Beweis dafür hatte.
Etwas an der Frau war falsch, dachte Patrizia Roos und warf Süden, der reglos, wie unbeteiligt, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor der Wand stand, einen Blick zu. Etwas an der Frau wirkte abweisend und kalt.
Ihr Blick erzählte eine andere Geschichte als ihre Stimme, dachte Süden beim Zuhören.
»Sprechen Sie weiter«, sagte Leonhard Kreutzer. »Wollen Sie nicht doch Platz nehmen?«
»Nein«, sagte sie, obwohl sie sich lieber gesetzt hätte. Der an der Wand stehende Mann flößte ihr Unbehagen ein, obwohl sie ihn interessant und fast attraktiv fand. Seit sie den Raum betreten hatte, hatte er noch kein Wort gesprochen. Seinen Namen wusste sie nicht mehr. Der ältere Mann, der sich an der Eingangstür als Stellvertreter der abwesenden Chefin vorgestellt hatte, sah sie die ganze Zeit mitleidig an. Das passte ihr nicht. Und die junge Frau, die sich hinter ihrem Laptop verschanzte, hielt sich für sehr clever, das war Mia Bischof sofort klar gewesen.
Dumme Idee, hierherzukommen, dachte sie. Im Treppenhaus hatte sie noch das Gegenteil gedacht. »Ich bin mir nicht sicher … Wahrscheinlich bin ich bei Ihnen verkehrt.«
Nach einem Moment des Zögerns stand Leonhard Kreutzer auf und kam um den beladenen Schreibtisch herum. Nachdem er die Frau im Flur begrüßt, ins Büro geführt und seinem Kollegen und seiner Kollegin vorgestellt hatte, bat er sie, sich an den langen Tisch zu setzen. Da sie stehen blieb, kehrte er an seinen Platz zurück, weil er Edith Liebergesell dabei beobachtet hatte, dass sie dasselbe tat, wenn ein Gast erst einmal unschlüssig herumstand. »Ihr Bekannter ist verschwunden, und Sie machen sich Sorgen um ihn«, sagte er.
So was hätte ich nicht sagen sollen, dachte Mia Bischof, ich hab einen Fehler gemacht, ich muss wieder weg. Um nicht unhöflich zu erscheinen, sagte sie: »Das ist wahr, aber jetzt denke ich, er will mir nur einen Schrecken einjagen. Manchmal ist er so. Er benimmt sich dann wie ein ungezogenes Kind, das seine Mutter tratzen möchte. Das muss man hinnehmen, das geht vorbei. Ich war voreilig, entschuldigen Sie, ich möchte Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen. Und ich muss auch zur Arbeit.«
Was war los mit dieser Frau?, dachte Patrizia Roos. Was wollte sie wirklich hier?
»Wo arbeiten Sie?«, fragte Kreutzer.
»Ich bin Redakteurin beim Tagesanzeiger.« Sie bemerkte, dass jeder im Raum sie ansah, und zupfte an ihrer karierten Wollmütze, aus der zwei geflochtene Zöpfe herausragten. Dann herrschte Schweigen. Nur die Geräusche der Straße waren gedämpft zu hören. Der Fehler, den sie aus Gründen begangen hatte, die ihr gerade völlig rätselhaft waren, machte sie allmählich wütend. Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Sie haben uns noch nicht gesagt, wie der Mann heißt, den Sie vermissen.«
Der Mann an der Wand. Sie schaute zu ihm hin.
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