Macabros 005: Die Schreckensgöttin
Die Sonne schien, der Himmel war blau wie selten über London.
Zur Mittagspause bevölkerten ungezählte Londoner in hellen
und bunten Kleidern den Trafalgar Square. Und mit den Steinlöwen
hockten Tierfreunde zu Füßen der Nelson-Säule und
bedienten Tauben mit Körnern und Brotkrumen. Man konnte an eine
heile Welt glauben.
Da kam aus der Erde ein Mann. Er war der einzige, der einen
dunklen Anzug trug. Er war wie ein schwarzer Käfer, der
über eine blühende Wiese kroch.
Der Mann kam aus der Untergrundbahnstation und überquerte den
Trafalgar Square Richtung National Gallery.
Plötzlich zerriß ein wilder Schrei die Luft.
Die Köpfe der Menschen flogen herum.
Der Mann im dunklen Anzug warf die Arme hoch und schrie wie am
Spieß. Ein großer zottiger Hund hatte ihn angefallen und
zu Boden geworfen. Sein Gebiß bohrte sich in die Kehle des
dunklen Passanten.
Eine Frauenstimme kreischte: »Den Hund! So seht doch den
Hund! O mein Gott! Wie furchtbar.«
Viele sahen den Hund. Und sie wollten nicht glauben, daß
das, was sie sahen, Wirklichkeit war.
Der Hund hatte als Kopf einen menschlichen Totenschädel. Das
Blut seines Opfers troff aus dem Knochenmaul.
Wie ein Gespenst huschte das große, zottige Tier über
den Trafalgar Square. Die Tauben stoben auseinander, die Menschen
schreiend davon. Einige wagten es, dem Ungeheuer nachzujagen.
Ohne Erfolg.
Der Hund mit dem menschlichen Totenschädel war
verschwunden.
Zeugen sagten später aus, daß sie ihn zuletzt auf dem
Bürgersteig vor der National Gallery gesehen hätten. Auch
ein Pflastermaler, der mit Farbstiften ein Porträt der
Königin auf den Bürgersteig zeichnete, machte eine Aussage.
Er war vor Schreck auf die kleine Mauer vor der Galerie gesprungen
und hatte gesehen, wie der zottige Hund links an dem Gebäude
vorbei gerannt und in die Whit Comb Street eingebogen war. Dort
verlor sich die Spur des ungewöhnlichen Tieres.
Der Mann, um den sich sofort zahlreiche Passanten kümmerten
wurde mit einem Ambulanzwagen weggebracht. Er lebte noch, aber sein
Zustand war bedenklich. Die Papiere, die er bei sich trug, lauteten
auf den Namen James Fleet.
Die Zeitungen berichteten am Abend von dem ungeheuerlichen
Vorkommnis. Im Evening Star gab es Bilder von dem Hund.
Niemals zuvor hatte jemand ein ähnliches Tier beobachtet.
Viele Leser riefen in der Redaktion und bei der Polizei an und
erkundigten sich, ob der Bericht wirklich auf Wahrheit beruhe oder ob
ein Reporter sich eine neue Masche ausgedacht habe, Horrorgeschichten
als Tatsachen aufzumachen.
Ein Scherzbold behauptete, er hätte mit Sicherheit das
Muttertier des ungewöhnlichen Hundes gesehen. Es sei dreimal so
groß und hätte ein langes, rostbraunes Fell. Der Kopf
bestünde aus einem riesigen Gebiß. Auf einem der
größten Londoner Friedhöfe, auf dem Brompton, treibe
es sich herum.
Die Polizei ging dem Anruf nach. Von vornherein wußte man,
daß der anonyme Anrufer sich einen Spaß erlaubte. Aber
die Beamten erfüllten ihre Pflicht. Sie kämmten den
Brompton-Friedhof von einem Ende bis zum anderen durch und fanden
nicht die geringste Spur.
Es gingen mehrere solcher Hinweise ein. Bis zum Abend waren die
Streifenfahrzeuge unterwegs.
Ohne Ergebnis.
Auch Scotland Yard nahm sich des Falles an. Inspektor Gloaster
wurde mit dem Fall betraut. Anfangs bestand der Verdacht, daß
die Erscheinung des Totenkopfhundes, der von der Presse den
unsympathischen Namen ’Höllenhund’ erhalten hatte, auf
eine Massenpsychose zurückzuführen war. Dagegen sprach,
daß der Hund an verschiedenen Orten gesehen wurde. Der Weg des
Tieres war verfolgt worden, und die Aussagen verschiedener Personen
deckten sich, ohne daß sie zuvor Kontakt miteinander oder sich
abgesprochen hatten.
Etwas war dran an dem ungewöhnlichen Tier, daran gab es
keinen Zweifel. Inspektor Gloaster war der Meinung, daß man
wahrscheinlich nur über die Person des Angefallenen, dieses
James Fleet, weiterkam.
Zu seinen Mitarbeitern sagte er: »Es ist doch offensichtlich,
daß der Angriff nur diesem Fleet gegolten hat. Viele andere
Menschen standen herum, um die hat sich der Hund gar nicht
gekümmert.« Er kratzte sich im Nacken und machte ein
nachdenkliches Gesicht. »Vom kriminalistischen Standpunkt aus
gesehen liegt hier ein Mordversuch vor. Ich habe zwar genügend
Fälle erlebt, wo maskierte Gangster ihr Opfer überfielen.
Aber in meiner langjährigen Praxis ist dies der erste maskierte
Hund, der mir begegnet.«
Er blickte über den Rand der
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