Macabros 041: Tschinandoah - wo die Steine leben
Er schlug die Augen auf.
Unruhe erfüllte ihn.
Björn Hellmark alias Macabros starrte zum Himmel.
Zartes Blau-Grau spann sich wie ein dichtgewebtes Netz über
eine hügelige Landschaft, in der schlanke, himmelragende
Bäume wuchsen. Sie standen in Gruppen und waren von einer
spröden, bindegewebsartigen Haut zusammengefaßt, so
daß sie wie ein überdimensionales, alleinstehendes
Gewächs wirkten.
Im Abstand von mehreren hundert Metern ragte jeweils ein solcher
Baum in die Landschaft.
Björn wischte sich über die Augen und atmete tief.
Die Sonne stand noch verhältnismäßig hoch. Ihre
Strahlen waren warm und angenehm. Die Luft bewegte sich nicht.
Björn fühlte sich ausgeruht, als hätte er
mindestens zehn Stunden geschlafen. Aber das konnte nicht sein. Wenn
er den Schlafrhythmus fortsetzte, den er während der letzten
Wochen durchexerziert hatte, dann mußte es jetzt später
Nachmittag sein, dann mußte die Sonne tiefer stehen.
Seit er mit Danielle de Barteaulieé, seiner schönen
Begleiterin, die ein rätselhaftes Schicksal erlitten hatte, in
die »Puppe des Somschedd« kroch, um der lebensfeindlichen
Magie Tamuurs zu entgehen, stimmte etwas nicht mehr.
Die Landschaft war anders, der Himmel hatte sich verändert,
die Tage waren länger…
Beunruhigt mußte er daran denken, daß sein Geistfreund
Al Nafuur ihn vor Antritt der Reise in die Parallelwelt davor warnte,
die »Puppe des Somschedd« in irgendeiner Form zu benutzen.
Wenn Björn sich noch mal die zurückliegenden hektischen
Ereignisse vor Augen hielt, dann fiel ihm auch jetzt im Nachhinein
kein anderer Weg ein. Im Tal Tamuurs, des Scharlachroten, der das
Leben nach seiner eigenen Phantasie veränderte und gestaltete,
wäre ihnen der sichere Tod gewiß gewesen.
Hellmark richtete sich auf. Sein Blick streifte das jugendliche
Mädchen an seiner Seite. Danielle schlief noch. Der Marsch in
der letzten Nacht war anstrengender und kräfteraubender gewesen
als die Wege davor.
Sie waren länger unterwegs gewesen. Demnach dauerte also auch
die Nacht länger…
Irgend etwas stimmte nicht mehr im Rhythmus des Tagesablaufs. Aber
was es war, vermochte er nicht zu sagen.
Der blonde Deutsche mit der athletischen Figur erhob sich
lautlos.
An seinem Gürtel war außer dem Schwert des Toten Gottes
ein kleiner sackähnlicher Behälter befestigt, in dem er
verschiedene Utensilien aufbewahrte: die Dämonenmaske, die Augen
des Schwarzen Manja, von denen sich drei in seinem Besitz befanden
– und ein Fläschchen mit einer besonderen Flüssigkeit,
dem Trank der Siaris.
Dieses Fläschchen nestelte er heraus.
Die geheimnisvolle Flüssigkeit war ihm zu treuen Händen
und für besondere Situationen überlassen worden. Wer sie
zur rechten Zeit nahm, dem weitete sich das Bewußtsein, und er
erhielt Einblick in Dinge, die er zuvor nicht erkannt hatte. Zur
falschen Zeit genommen aber führte der Trank der Siaris den Tod
herbei.
Damit wollten die, die die Flüssigkeit aus einer
rätselhaften Blume gewonnen hatten, verhindern, daß
Mißbrauch mit dem Trank getrieben wurde.
Zuerst kam der Geist, von dem man eine Entscheidung verlangte, das
Gefühl, von dem man erwartete, daß es den Geist in
positivem Sinn beeinflußte. Wenn eine wirkliche Ausweglosigkeit
vorlag, war der Genuß des Trankes der Siaris berechtigt.
Björn ließ den Blick durch das seltsame Tal mit den
zusammengebündelten Bäumen schweifen.
Im Morgengrauen hatten sie diese Landschaft erreicht. Er war dem
Licht des Südstern gefolgt, der für ihn zum Fanal der
Hoffnung geworden war.
Aber selbst das Licht dieses Sterns hatte ihn in der letzten Nacht
zum ersten Mal irritiert.
Es wirkte kompakter, als wären die Sterne des
äußeren Rings näher an den Stern im Mittelpunkt
herangerückt.
Danielle bewegte sich, und Björn drückte schnell den
Pfropfen wieder in den Flaschenhals und verstaute die Flasche in dem
Behälter. Danielle sollte nicht merken, was in ihm vorging.
Sie schlug die Augen auf und lächelte.
Die junge Französin, die durch die Beschäftigung ihres
Vaters mit Schwarzer Magie und dem Anrufen hoher dämonischer
Wesen ewige Jugend und Schönheit erhalten hatte, streckte die
schlanken Arme in die Höhe, faßte nach Björns
Händen und zog ihn langsam zu sich herunter. Ihre Lippen
berührten sich.
»Guten Morgen – oder soll ich besser sagen: guten
Abend?« flüsterte die charmante Dunkelhaarige. »Seit
wir zusammen sind, beginnt unser Tag mit der Nacht. Bist du schon
lange wach?«
»Ich bin
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