Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
KAPITEL 1
Anfang Februar 2011
Ira
Manchmal glaube ich, ich bin der Letzte meiner Art.
Mein Name ist Ira Levinson. Ich bin Südstaatler und Jude und auf beides gleichermaßen stolz. Außerdem bin ich ein alter Mann. Geboren wurde ich 1 9 20, dem Jahr, in dem Alkohol gesetzlich verboten wurde und Frauen das Wahlrecht erhielten, und ich habe mich oft gefragt, ob mein Geburtsjahr der Grund dafür war, warum sich mein Leben so entwickelte, wie es sich entwickelt hat. Ein Trinker war ich schließlich nie, und die Frau, die ich geheiratet habe, stand Schlange, um ihre Stimme für Roosevelt abzugeben, sobald sie das erforderliche Alter erreicht hatte. Deshalb könnte man sich leicht vorstellen, dass mein Geburtsjahr das Ganze irgendwie verfügt hatte.
Mein Vater hätte sich über diesen Gedanken lustig gemacht. Er war ein Mann, der an feste Regeln glaubte.
»Ira«, sagte er immer zu mir, als ich noch jung war und bei ihm im Geschäft, einem Herrenausstatter, arbeitete, »ich sage dir mal, was du niemals tun solltest.« Und dann zählte er auf. Seine Lebensregeln nannte er das, und ich wurde mit diesen Regeln zu mehr oder weniger jedem Thema groß. Manche davon waren religiöser Natur und wurzelten in der Lehre des Talmuds; und wahrscheinlich war es das, was die meisten Eltern ihren Kindern beibringen. Zum Beispiel hieß es, ich solle niemals lügen oder betrügen oder stehlen. Doch mein Vater – ein Gelegenheitsjude, wie er sich damals nannte – konzentrierte sich im Zweifelsfall eher auf das Praktische. Geh niemals bei Regen ohne Hut aus dem Haus, schärfte er mir ein. Fass niemals eine Herdplatte an, denn sie könnte noch heiß sein. Ich wurde davor gewarnt, mein Geld in der Öffentlichkeit zu zählen oder Schmuck von einem Straßenhändler zu kaufen, egal, wie gut sich das Geschäft anhören mochte. Und so ging es endlos weiter, niemals dies und niemals das, aber trotz ihrer Will kürlichkeit befolgte ich letzten Endes fast jede dieser Regeln, vielleicht, weil ich meinen Vater nicht enttäuschen wollte. Seine Stimme folgt mir bis heute überallhin auf dieser längsten aller Reisen, dem Leben.
Ähnlich häufig wurde mir gesagt, was ich auf jeden Fall tun sollte. Er erwartete Ehrlichkeit und Integrität in allen Lebensbereichen, aber darüber hinaus brachte er mir bei, Frauen und Kindern die Tür aufzuhalten, Hände mit festem Griff zu schütteln, Namen nicht zu vergessen und dem Kunden immer etwas mehr zu geben, als er erwartete. Seine Regeln, das begriff ich nach und nach, bildeten nicht nur die Grundlage einer Philosophie, die ihm gute Dienste geleistet hatte, sondern sagten auch sehr viel über ihn selbst aus. Da mein Vater an Ehrlichkeit und Integrität glaubte, ging er davon aus, dass andere das auch taten. Er glaubte an Anstand und nahm an, dass andere es genauso hielten. Er glaubte, dass die meisten Menschen, wenn sie die Wahl hätten, das Richtige tun würden, selbst wenn es schwer wäre, und er glaubte, dass das Gute immer über das Böse sie gen würde. Allerdings war er nicht naiv. »Vertrau den Men schen«, sagte er zu mir, »bis sie dir Anlass geben, es nicht zu tun. Und dann kehre ihnen nie wieder den Rücken zu.«
Mehr als jeder andere formte mein Vater mich zu dem Mann, der ich heute bin.
Doch der Krieg veränderte ihn. Besser gesagt, der Holocaust veränderte ihn. Nicht seine Intelligenz – mein Vater konnte das Kreuzworträtsel in der New York Times in weniger als zehn Minuten lösen –, aber seine Ansichten über Menschen. Die Welt, die er zu kennen glaubte, war für ihn plötzlich nicht mehr nachvollziehbar. Damals war er bereits Ende fünfzig, und nachdem er mich zum Teilhaber gemacht hatte, hielt er sich nur noch selten im Laden auf. Stattdessen wurde er zum Vollzeitjuden. Er begann, regelmäßig mit meiner Mutter – zu ihr komme ich später – in die Synagoge zu gehen, und bot diversen jüdischen Organisationen finanzielle Unterstützung an. Am Sabbat arbeitete er nicht mehr. Er verfolgte aufmerksam die Nachrichten über die Gründung Israels und in der Folge den Palästinakrieg und fuhr von da an mindestens einmal pro Jahr nach Jerusalem, als suchte er etwas, von dem er vorher nicht gewusst hatte, dass er es vermisste. Als er älter wurde, machte ich mir Sorgen wegen dieser weiten Reisen, doch er ver sicherte mir, er könne auf sich aufpassen, und viele Jahre war das auch so. Trotz seines fortschreitenden Alters blieb er geistig wach wie eh und je, nur leider war sein Körper
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