Macht (German Edition)
werden es vielleicht fertig bringen, eine durchgreifende Erneuerung überhaupt unmöglich zu machen. Auf der anderen Seite kann Krieg Revolution und sogar Anarchie fördern und vielleicht zu einem ganz neuen Anfang führen. Aus diesem Grunde sehen manche Kommunisten dem nächsten Kriege mit Hoffnung entgegen.
Der glühende Erneuerer ist in der Regel ein Anhänger des tausendjährigen Reichs: Er glaubt, dass das tausendjährige Reich beginnen wird, wenn alle Menschen seinen Glauben annehmen. Obwohl er in der Gegenwart Revolutionär ist, ist er in der Zukunft Konservativer: Ein vollkommener Staat muss erreicht und dann unverändert erhalten werden. Da er diesen Standpunkt vertritt, schreckt er natürlich vor keiner Gewaltsamkeit zurück, wenn er den vollkommenen Staat zu erreichen oder seinen Sturz zu verhindern sucht: In der Opposition ist er ein Terrorist, in der Regierung ein Verfolger. Sein Glaube an die Gewalt weckt natürlich denselben Glauben in seinen Gegnern: Wenn sie an der Macht sind, werden sie ihn verfolgen, und wenn sie in der Opposition sind, werden sie seine Ermordung planen. Sein tausendjähriges Reich ist daher keineswegs für jedermann angenehm; es wird Spitzel geben, Verhaftungen auf behördliche Anordnung und Konzentrationslager. Aber wie Tertullian sieht er darin nichts Schlimmes.
Es gibt allerdings Anhänger des tausendjährigen Reichs von sanfterer Art. Es gibt solche, die glauben, dass das Beste in einem Menschen von innen kommen muss und nicht von irgendeiner äußeren Autorität erzwungen werden kann; dieser Standpunkt wird zum Beispiel von den Quäkern vertreten. Es gibt andere, die glauben, dass äußere Einflüsse bedeutsam und wohltätig sein können, wenn sie die Form der Mildtätigkeit und weiser Überredung, aber nicht die Form von Gefängnis oder Hinrichtung annehmen. Solche Leute können an Propagandafreiheit glauben, obwohl sie glühende Erneuerer sind.
Es gibt eine andere Art des Erneuerers, die erst besteht, seitdem die Evolution modern wurde; für sie kann Sorel in seiner syndikalistischen Zeit als typisch angesehen werden. Solche Leute glauben, dass das menschliche Leben ein ständiger Fortschritt sein sollte, nicht einem beschreibbaren Ziel entgegen, nicht in einem Sinn, der vor vollbrachtem Fortschritt genau festgelegt werden kann, sondern derart, dass jeder getane Schritt sich nachträglich als Fortschritt erweist. Es ist besser zu sehen als nicht zu sehen und zu sprechen als ohne Sprache zu sein; als aber alle Tiere noch blind waren, war es ihnen nicht möglich, die Erwerbung des Sehvermögens als nächsten Schritt nach vorn vorzuschlagen. Nichtsdestoweniger beweist die Tatsache, dass es sich um einen folgenden Schritt handelt, retrospektiv, dass ein statischer Konservativismus ein Fehler gewesen wäre. Daher sollen – so argumentiert man – alle Erfindungen ermutigt werden, denn eine von ihnen, wenn man auch nicht weiß welche, wird den Geist der Entwicklung in sich tragen.
Zweifellos ist ein Element Wahrheit in dieser Ansicht enthalten, aber es entartet leicht in einen flachen Fortschrittsmystizismus, und infolge seiner Unbestimmtheit kann man es nicht zur Grundlage einer praktischen Politik machen. Die geschichtlich bedeutenden Erneuerer haben geglaubt, das himmlische Königreich im Sturm nehmen zu können; oft haben sie ihr Königreich errichtet, es stellte sich aber heraus, dass es nicht das himmlische Königreich war.
Ich komme nun zum Standpunkt des Philosophen im Hinblick auf die Propagandafreiheit. Gibbon sagt, indem er den toleranten Geist des Altertums beschreibt: »Die verschiedenen Arten der Verehrung, die in der römischen Welt vorherrschten, wurden vom Volke für gleichermaßen wahr angesehen, von den Philosophen für gleichermaßen falsch und vom Magistraten für gleichermaßen nützlich.« Der Philosoph, den ich im Sinne habe, wird nicht so weit gehen, zu behaupten, dass alle bestehenden Ansichten gleichermaßen falsch sind, aber er wird nicht zulassen, dass irgendeine frei von Irrtümern wäre oder dass, wenn es eine solche doch geben sollte, sie mit den Fähigkeiten des menschlichen Verstandes als solche zu erkennen wäre. Für den unphilosophischen Propagandisten gibt es die eigene Propaganda, die der Wahrheit entspricht, und die gegnerische Propaganda, die falsch ist. Wenn er daran glaubt, dass man beide zulassen sollte, so nur darum, weil er fürchtet, dass man die seine verbieten könnte. Für den philosophischen Beobachter ist die Sache nicht
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