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Macht (German Edition)

Macht (German Edition)

Titel: Macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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so einfach.
    Was kann für den Philosophen der Nutzen der Propaganda sein? Er kann nicht wie der Propagandist sagen: »Es gibt Nadelfabriken, um Nadeln herzustellen, und Meinungsfabriken, um Meinungen zu machen. Wenn die hergestellten Meinungen einander so gleich sind wie zwei Nadeln, was soll das, vorausgesetzt, es sind gute Meinungen? Und wenn sich die Massenproduktion, die das Monopol ermöglicht, billiger stellt als die einander Konkurrenz machende kleine Produktion, gibt es im einen wie im anderen Fall den gleichen Grund für das Monopol. Nein, mehr sogar: Eine konkurrierende Meinungsfabrik stellt in der Regel, ungleich einer konkurrierenden Nadelfabrik, keine anderen Meinungen her, die vielleicht ebenso gut sind: Sie macht Meinungen, die den Meinungen meiner Fabrik schaden sollen, und vermehrt daher gewaltig (das Maß an Arbeit, das erforderlich ist, um die Leute mit meinem Produkt zu versorgen. Konkurrenzformen sollten daher verboten werden.« Diesen Standpunkt kann, wie gesagt, der Philosoph nicht akzeptieren. Er muss behaupten, dass jeder nützliche Zweck, dem die Propaganda dient, keine beinahe mit Sicherheit als falsch zu bezeichnende Meinung sein darf, an die man als Dogma glaubt, sondern dass er richtiges Urteil, gesunden Zweifel und die Gewalt einander gegenüberstehender Überlegungen fördern muss; und einem solchen Zweck kann die Propaganda nur dienen, wenn es propagandistische Konkurrenz gibt. Er wird das Publikum mit einem Richter vergleichen, der beide Seiten hört, und wird sagen, dass ein Propagandamonopol so unsinnig ist, als ob in einem Gerichtssaal nur der Ankläger oder nur der Verteidiger angehört würde. Weit davon entfernt, für eine Uniformität der Propaganda einzutreten, wird er so weit wie möglich befürworten, dass jeder alle Aspekte einer Frage betrachten solle. Statt die Existenz verschiedener Zeitungen zu empfehlen, von denen jede die Interessen einer Partei vertritt und den Dogmatismus ihrer Leser fördert, wird er für eine einzige Zeitung sein, in der alle Parteien vertreten sind.
    Freiheit der Diskussion, deren intellektuelle Vorteile auf der Hand liegen, bedeutet nicht notwendigerweise miteinander kämpfende Organisationen. Die BBC macht das Streitgespräch möglich. Rivalisierende wissenschaftliche Theorien können innerhalb der Royal Society vertreten werden. Gelehrte Körperschaften betreiben im allgemeinen keine korporative Propaganda, sondern geben ihren Mitgliedern Gelegenheit, ihre verschiedenen Theorien zu verteidigen. Eine derartige Diskussion innerhalb einer einzelnen Organisation setzt eine fundamentale Übereinstimmung voraus; kein Ägyptologe würde seine Zuflucht zum Militär nehmen, um einen anderen Ägyptologen zu vernichten, dessen Theorien ihm missfallen. Wenn eine Gemeinschaft sich grundsätzlich über ihre Regierungsform einig ist, ist eine freie Diskussion möglich, wo aber eine solche Übereinstimmung nicht besteht, wird Propaganda als Vorspiel zum Machteinsatz empfunden, und die Starken werden natürlicherweise nach einem Propagandamonopol streben. Propagandafreiheit ist möglich, wenn die Differenzen nicht derart sind, dass sie eine friedliche Zusammenarbeit unter einer Regierung unmöglich machen. Protestanten und Katholiken konnten politisch im sechzehnten Jahrhundert nicht zusammenarbeiten, aber im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert konnten sie es; von da an wurde religiöse Duldung möglich. Ein stabiles Regierungsgerüst ist für die intellektuelle Freiheit erforderlich; unglücklicherweise kann es aber auch die wichtigste Triebkraft der Tyrannei sein. Die Lösung dieser Schwierigkeit hängt in großem Maße von der Regierungsform ab.

FÜNFZEHNTES KAPITEL
MACHT UND MORALISCHE PRINZIPIEN
    M oral, jedenfalls seit den Tagen der jüdischen Propheten, hat zwei verschiedene Aspekte gehabt. Einerseits handelte es sich um eine gesellschaftliche Institution, die dem Gesetz entsprach; andererseits war sie eine Angelegenheit des individuellen Gewissens. Im ersten Falle bildet sie einen Teil des Machtapparats, im letzteren trägt sie oft revolutionären Charakter. Die dem Gesetz analoge Art nennt man »positive« Moral, die andere Art mag man »persönliche« Moral nennen. Ich möchte in diesem Kapitel die Beziehungen dieser zwei Arten von Moral untereinander und zur Macht untersuchen.
    Positive Moral ist älter als persönliche Moral und wahrscheinlich älter als Gesetz und Regierung. Sie besteht ursprünglich aus Stammesbräuchen, aus denen das

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