Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Saint-Rémy-de-Provence, 16. Mai 2010
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DER ERSTE TROPFEN ist heute Morgen gegen neun Uhr gefallen. Als ich aufstand. Und seither schüttet es.
Heute ist ein Jahrestag. Das weià ich, ohne in den Kalender schauen zu müssen. Wie jedes Jahr habe ich auch heute eine Kerze angezündet, sie flackert im feuchten Luftzug. Es ist der 16. Mai, und ich bin zum einundzwanzigsten Mal in Trauer. Das Wetter hat sich darauf eingestimmt.
Es war schwül in den letzten Tagen. Ich war schlapp, konnte mich zu nichts aufraffen. Hatte das Gefühl, keine Energie zu haben, von einer langen Tournee ausgelaugt zu sein. Kabaret hat mich erschöpft, glaube ich. Ich hatte einfach Lust, nichts zu tun. Nichts zu denken. Dem Garten zuzuschauen, wie er in diesem Frühling erwacht, sanft zu träumen, ohne Ziel, ohne Unruhe.
Doch jetzt löst sich meine Schlaffheit im Regen auf. Ich sehe, wie er auf meinen alten rostigen Liegestuhl prasselt, die Terrassenplatten aufhellt, über das Schmiedeeisen der Tische spült. Die Kraft kehrt zurück. Wie vor einundzwanzig Jahren. »Ich will, dass du groà wirst«, sagte sie zu mir. Und so bin ich ihretwegen unablässig gewachsen. Auch wenn ich schlieÃlich anstieÃ. Als wäre ich eingesperrt, oder als wäre die Decke zu niedrig.
Ein Künstlerleben ⦠Das erträumte sie sich für mich. Rampenlicht, Bühnenhitze, hysterische Fans. Begegnungen mit den Sternen und den Lichtgestalten, den Stars und Präsidenten.
Und Reisen nach Russland, Asien oder Deutschland.
Ein Künstlerleben ⦠Ich habe es gehabt, ich habe es noch und bedaure es nicht. Doch wenn ich daran denke, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Als hätte ich geträumt.
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Mit Abstand betrachtet, habe ich über meine Verhältnisse gelebt. Unfähig zur Wirklichkeit. AuÃer auf der Bühne. Bei alledem habe ich Patricia vergessen. Ich habe viel gesungen, viel geliebt, viel geweint. Aber nicht gesprochen. Es ist nicht meine Art, groÃe Worte zu machen. Wenn ich mich erinnern will, habe ich nur Bilder. Ehrliche. Hier die Original-Tonspur meines Lebens. Der Kommentar dazu, die Stimme aus dem Off. Die Plattenrückseite, die Sie nie gehört haben.
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Kohleherd
Der köstliche Geruch dringt bis ins Wohnzimmer. So mächtig, so verlockend, dass ich ihn geradezu wie einen nach Kakao duftenden Nebel vor mir auftauchen sehe. Und ich folge der Duftspur wie der Bär in den Comics, wenn er Kuchen erschnüffelt hat, der auf dem Fensterbrett abkühlt. Der kostbare Geruch meiner Kindheit. Im Backofen glänzt die Schokolade auf den Plätzchen, die wir nachher genüsslich knabbern werden. Doch »nachher« ist zu weit weg für meine Naschsucht. Auf diese Plätzchen warte ich das ganze Jahr.
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Heute Abend ist Weihnachtsabend, und Maman ist heftig in der Küche beschäftigt, sie richtet an, schneidet, rührt und glasiert. Die Duftwolken aus den Töpfen auf dem Feuer vermischen sich. Und obwohl ich ihren Inhalt kenne, entdecke ich ihn jedes Mal neu. Ich bin ohnehin zu klein, um in die Töpfe zu schauen, also ist es meine Nase, die ganz unschuldig tut. Ich lungere neugierig in der Küche herum und schnüffle wie ein Mäuschen, welche Köstlichkeiten meine Fee zusammenbraut. Papas Leibgericht: Schnecken in grüner KnoblauchsoÃe. Dann eine Gemüsebouillon, die vor sich hin köchelt und fröhlich kleine Blasen platzen lässt, und der Braten, der auf seinem Bett aus Zwiebeln, Tomaten und Kräutern thront und darauf wartet, dass er in den Ofen kommt. Er findet als Herzstück des Weihnachtsmahls einhellige Zustimmung, während Kaninchen oder Truthahn von einigen unter
uns Kindern verschmäht werden. Es ist gar nicht so einfach, sich mit so vielen Geschwistern auf ein Menü zu einigen. Wir sind sieben, wie die Zwerge, die Glorreichen, die Weltwunder, die Leben der Katze, die Wochentage, die Kristallkugeln ⦠An der Spitze fünf Jungen, gefolgt von zwei Mädchen. Heute sind wir alle da, auch die, die schon aus dem Haus sind, die GroÃen, Robert, Raymond und Bruno, die ihre Frauen mitgebracht haben. Ich liebe es, wenn das Haus voll ist, wenn wir vollständig versammelt sind, wenn das Wohnzimmer fast platzt vor Bewegung und Lachen, wenn die vom Alkohol erhitzten Stimmen lauter dröhnen. Ich liebe es zu raten, wer kommt, wenn es an der Tür klingelt. Ich liebe diesen einen Abend währenden
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