Süden und die Frau mit dem harten Kleid
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D ies ist die Geschichte von Johann Farak, deinem Vater, von dem du nichts wusstest. Auch ich weiß wenig von ihm, und was ich über ihn erfahren habe, beruht auf Aussagen von Leuten, die ihn zwar gekannt, aber selten ernst genommen haben, die meisten hielten ihn für einen Spinner, einige für einen Versager, andere für einen Alkoholiker. Ich halte ihn für einen Lebenskünstler, der gescheitert ist, und das ist in meinen Augen keine Schande.
In dem Bericht, den ich dir schicke, tauchen Menschen auf, die dir vollkommen unbekannt sein mögen, die aber dennoch Teil deines Lebens sind, auch wenn du sie nie bewusst wahrgenommen hast. Einigen von ihnen bist du begegnet, hast mit ihnen gesprochen, flüchtig, wie man mit jemandem spricht, den man nach dem Weg fragt oder im Gasthaus um die Speisekarte bittet und sich dabei nach dem Gericht erkundigt, das der andere gerade isst.
Ich kam mit ihnen als Sachbearbeiter im Fall der Vermissung deines Vaters in Kontakt, und manches von dem, was sie schilderten, verwendete ich für meine offiziellen Akten, vieles davon nicht. Dies steht nun auf den folgenden Seiten. Natürlich hätte ich, obwohl du mir das verboten hast, versuchen können, dich zu treffen und dir die Geschichte zu erzählen. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich so lange hätte sprechen wollen. Ich bezweifele es. Zu schweigen fiel mir immer schon leichter als zu sprechen und das Briefeschreiben ist eine gute Möglichkeit, beides gleichzeitig zu tun.
Dieser Bericht enthält also die Geschichte deines Vaters aus der Sicht von Personen, die ihm nahe standen, ohne dass er selbst, so scheint mir heute, besonderen Wert auf ihre Nähe gelegt hätte. Vor allem schildere ich dir meine eigenen Beobachtungen und Vermutungen und Interpretationen. Der Grund, warum ich in den vergangenen zwei Wochen jede Nacht an dem Tisch in meinem Zimmer mit den gelben Wänden saß und schrieb, war: Ich wusste nicht wohin mit diesen Erzählungen von Fremden, die um einen Mann kreisten, der mir nicht fremd ist, obwohl ich ihn so wenig kenne wie du. Vielleicht begreifen wir auf diesem Weg beide, worum es Johann Farak in diesem Leben ging, auch wenn es, glaube ich, nicht die geringste Rolle spielt, ob wir es begreifen oder nicht. Aber immerhin bist du seine Tochter und der einzige Mensch in eurer zerrissenen Familie, der die Tapetentür nicht nur bemerkt, sondern sogar geöffnet hat.
Die Polizeidienststelle in Münzing liegt in einer Seitenstraße gegenüber einer Bäckerei, was günstig war, da meine Kollegin Sonja Feyerabend vor der Fahrt aufs Land von nichts anderem gesprochen hatte als davon, dass ihr am Morgen nicht vergönnt gewesen war, in Ruhe ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte verschlafen und um acht Uhr einen Termin beim Zahnarzt, und bevor sie die Wohnung verließ, erhielt sie einen Anruf vom Leiter unseres Kommissariats, der ihr eine aktuelle Änderung im Dienstplan mitteilte. Anschließend musste sie beim Zahnarzt wegen eines Notfalls dreißig Minuten warten, umplärrt von zwei ihrer Meinung nach hyperneurotischen kleinen Kindern, die, wie Sonja vermutete, möglicherweise eine taube Mutter hatten. Diese habe ungerührt zwanzig Illustrierte gelesen, von denen sie jede Seite in atemberaubender Geschwindigkeit und mit einem Höchstmaß an Rascheln umblätterte. Und als Sonja wieder gehen wollte, erklärte ihr die Sprechstundenhelferin so laut, dass ihre Stimme in dem Vorraum widerhallte, einen neuen Termin könne sie allenfalls in drei Wochen bekommen.
Mit Sonja Feyerabend nach Münzing zu fahren war ein spezielles Vergnügen.
Nachdem wir am ersten Café im Dorf vorbeigefahren waren, wollte sie impulsiv wenden. Im letzten Moment bemerkte sie auf der Gegenfahrbahn einen Mopedfahrer.
Ich saß auf der Rückbank, hinter dem Beifahrersitz, und hielt Ausschau nach dem blauen Schild der Dienststelle .
Wir fanden sie schnell. Und Sonja sah die Bäckerei und hinter den Fenstern die weißen Stehtische und klatschte wie ein glückliches Mädchen in die Hände .
»Und jetzt erzählen Sie!«, sagte sie. Die erste Tasse hatte sie wortlos getrunken, dazu aß sie ein Croissant, danach noch ein zweites. Wir bestellten beide einen weiteren Kaffee. Auch auf der Fahrt hatte sie, abgesehen von einer Frage auf der Autobahn, den Mund nicht aufgebracht .
»Die Nächste raus?«
»Die Übernächste.«
Das Schweigen hatte mich nicht gestört, wie du dir denken kannst.
»Seine Schwester hat ihn als vermisst gemeldet«, sagte ich und sah hinüber zu
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