Mädchen im Moor
und Zahlen untermauert waren, hatten sie nachgewiesen, daß der Jugendstrafvollzug in Deutschland überaltert sei, daß die Form der geschlossenen Strafanstalten mit verriegelten Türen, vergitterten Fenstern, halbstündlichem Spaziergang in einem engen Hof und Tütenkleben, Mattenflechten oder Kuvertieren von Versandhaus-Katalogen der unmodernen Ansicht entsprach, man müsse bestrafen und nicht bessern. Die neuen Kenntnisse von der Jugendpsychologie machten es notwendig, Anstalten zu schaffen, in denen eine Untat nicht als Strafe verbüßt wurde, sondern in denen in einem weltoffenen Geist der junge Mensch der Gemeinschaft wiedergewonnen wurde. Erziehung durch Arbeit, Besserung durch Vertrauen, Erkenntnis der eigenen Nützlichkeit durch Verantwortung … so lauteten die Schlagworte, aus denen dann als Versuch mitten im Moor das Gut ›Wildmoor‹ entstand, aus einem alten, verlassenen Nonnenkloster, das die Nonnen schon vor sechzig Jahren verlassen hatten, weil der Nachwuchs zu gering war.
Ein Jahr lang wurde umgebaut, neu gebaut, eingerichtet, von Kommissionen besichtigt, diskutiert, abgelehnt und zugestimmt, von Fantastereien geredet und vom Avantgardismus, bis schließlich – zögernd wie Behörden immer sind, wenn es sich um Neuland in ihren Kompetenzen handelt – an einem schönen Sommertage die ersten Mädchen nach Wildmoor kamen. Aus verschiedenen Gefängnissen, sorgfältig ausgewählt, wegen guter Führung abgestellt (was der Herr Pfarrer in jedem Fall befürworten und schriftlich beantragen mußte); Mädchen von 14 bis 21 Jahren, Gestrauchelte und Gerissene, kleine Diebinnen aus Abenteuerlust und perfekte Flittchen wie Käthe Wollop, in deren Akten schlicht Beischlafdiebstahl stand. Und noch jemand wurde nach Wildmoor versetzt, und man betrachtete es in Gefängnisfachkreisen als gerecht und zugleich als eine Ohrfeige: Regierungsrat Dr. Peter Schmidt übernahm die Leitung der offenen Jugendstrafanstalt Wildmoor. Jener Dr. Schmidt, der einer der glühendsten Befürworter der neuen Umerziehungstheorie gewesen war. »Jetzt kann er seine eigene Suppe auslöffeln«, sagte man in Kollegenkreisen hämisch. »Und – was gilt die Wette? – er verdirbt sich daran den Magen!«
An diesem nebeltrüben, feuchten Dezembertag stand Dr. Schmidt am Fenster seines großen Arbeitszimmers und sah hinaus auf die weißen, getünchten Gebäude seiner Strafanstalt. Zwei Dinge waren trotz aller neuen Ansichten übernommen worden … Gitter vor den Fenstern und des Nachts verriegelte Türen. Dafür stand aber tagsüber das große Einfahrtstor zum Innenhof offen, die Mädchen arbeiteten frei auf dem Gut, auf den Feldern, im Torfabbau des Moores oder als Gehilfinnen der Moorbäuerinnen, von denen sie abends abgeholt wurden. Nur zweimal in den eineinhalb Jahren war ein Fluchtversuch unternommen worden … beide Mädchen waren nicht weit gekommen. Suchtrupps fanden sie erschöpft unter Holunderbüschen liegend. Das Moor hatte sie zermürbt, die Angst, fehlzutreten und grauenhaft im Morast zu ersticken. So waren sie ziellos herumgeirrt und weinten vor Freude, daß man sie entdeckt hatte und ins Gut Wildmoor zurückbrachte.
Dr. Schmidt sah auf seine Armbanduhr. Er war der Typ eines Gelehrten mit schütterem, blondem Haar, einer goldeingefaßten Brille auf einer kleinen Nase, einem länglichen Gesicht, wasserblauen Augen und einem schlanken Körper in einem korrekten Maßanzug von dezentem Graublau. Dazu trug er einfarbige Schlipse, allerdings in Kontrastfarben zum Anzug. Heute, bei Graublau, war die Krawatte weinrot.
Der Neuzugang, der in wenigen Minuten eintreffen mußte, machte ihm Sorgen, bevor das Mädchen überhaupt da war. Die Strafakte war mit der Post vorausgeschickt worden … Bericht der Kriminalpolizei, Protokoll der Verhöre, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Strafzumessung, Begründung des Urteils, Sachverständigenurteile von zwei Psychiatern, eine Befürwortung des Gefängnisgeistlichen … es war eben alles da. Ein vollkommener Mensch in Form einer dreiundsechzigseitigen Akte. Blauer Deckel, schwarze Tuschenschrift, eine Registraturnummer. Ein Schicksal auf amtlichen Blättern.
Dr. Schmidt hatte die Akte genau studiert. Bevor er die Mädchen, die zu ihm überwiesen wurden, selbst sah, versuchte er immer, sich ein Bild von diesem Menschen zu machen, der einen Schritt abseits getan hatte und sich nun bemühen wollte, auf die normale Straße zurückzukehren. Meistens war es ihm gelungen, die Mädchen richtig
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