Mädchen im Moor
einzuschätzen. Die Mehrfachtäter – wie es so schön im Juristendeutsch heißt – oder die einmalig Gestolperten, die Berufsflittchen oder die von der Umwelt Verdorbenen … sie alle hatten vor ihm gestanden, und er hatte zu ihnen gesagt: »So … Sie haben nun einen großen Schritt in die Freiheit getan! Jeder Tag, den Sie hier verleben, ist ein Baustein Ihres ferneren Lebens. Mit dem Tag Ihrer Ankunft bereiten wir Ihre Entlassung vor … Ich wünsche Ihnen das Glück, ein guter Mensch zu werden.«
Das war pathetisch, zugegeben, aber es wirkte immer. Die einen weinten danach, die anderen sahen ihn verblüfft an, nur wenige grinsten, und in ihren Augen las man ihren Gedanken: »So ein doofer Hund.« Das änderte sich spätestens nach einem Monat. Vier Wochen – das hatte Dr. Schmidt herausgefunden – war die sogenannte Karenzzeit. In ihr geschahen die absonderlichsten Dinge. Dann war es Dr. Schmidt, der väterlich mit den Mädchen sprach, der sich um sie kümmerte, der mit ihnen hinaus ins Moor fuhr oder – im Frühjahr, im Sommer und im Herbst – mit allen Insassen einen ›Betriebsausflug‹ unternahm, der mit einem Würstchenessen endete.
Es klopfte. Dr. Schmidt drehte sich vom Fenster ab und rief »Herein!« Der Anstaltsarzt Dr. Röhrig kam herein und ging mit ausgestreckter Hand dem Regierungsrat entgegen.
»Du hast mich rufen lassen, Peter?« Dr. Röhrig war ein noch junger Mann. Er hatte mit Schmidt zusammen in Würzburg und Köln studiert und hatte in Stavenhagen eine Landarztpraxis aufgemacht. Als die offene Strafanstalt Wildmoor gegründet wurde, war es selbstverständlich, daß Dr. Schmidt seinen Freund als Vertragsarzt vorschlug. Das Ministerium willigte ein, denn die Kosten für einen ständigen Anstaltsarzt waren somit einzusparen. »Ist etwas Besonderes?«
»Ein Zugang.« Dr. Schmidt schlug den blauen Aktendeckel auf. »Monika Busse, 18 Jahre alt. Ein Jahr Jugendstrafe wegen Beihilfe zum Diebstahl und Hehlerei. Kommt aus einem soliden Haus. Vater ein kleiner Fuhrunternehmer, bieder und grundehrlich. Er begreift bis heute nicht, daß seine Tochter ins Gefängnis mußte. Nach allem, was ich gelesen habe, ist sie in diese Sache hineingeschlittert. Immer das alte Lied: Umwelteinflüsse, schlechter Umgang, eine gewisse Hörigkeit, die sich dann bildet, Gutgläubigkeit … die Jugend, die Freiheit mit Freiwild verwechselt.«
»Also ein sogenannter 100%iger Besserungsfall.«
»Ja. Und deshalb lege ich Monika auch zu Hilde Marchinski und Käthe Wollop ins Zimmer.«
»Unmöglich!« Dr. Röhrig hob wie abwehrend beide Hände. »Das geht schief.«
»Es darf nicht schiefgehen. Zwei schwere ›Damen‹ in Gemeinschaft mit einem Mädchen, das sich wirklich anstrengt, das hinter ihr Liegende zu vergessen.«
»Nach dem Gesetz der Farbenlehre deckt schwarz mehr als weiß! Die beiden Kanonen werden den kleinen Hasen einfach umschießen.«
»Oder nicht! Es wird schwer für Monika Busse werden, das weiß ich. Und selbst wenn es ihr nicht gelingt, die Marchinski und die Wollop zu beeinflussen, wird sie sehen, vor welchem Niedergang sie sich retten kann.«
»Du bist ein unheilbarer Idealist!« Dr. Röhrig nahm eine Zigarette aus einem Emaillekasten und zündete sie mit nervösen Fingern an. »Wenn du nur aufhören wolltest, bei jedem Menschen an den guten Kern zu glauben!«
»Jeder Mensch ist gut!« sagte Dr. Schmidt laut.
»Und das sagt ein Gefängnisleiter!«
»Vielleicht, weil wir die Menschen besser kennen als andere. Wir sehen sie nackt, seelisch völlig entblößt … nicht, wenn sie uns den Zerknirschten vorspielen, darauf falle ich nicht mehr herein, sondern dann, wenn sie sich unbeobachtet glauben, wenn sie am Fenster stehen und in die Weite des Moores schauen, wenn sie auf den Moorkanälen fahren, in den flachen Booten, den Rutschern, und die Sonne geht unter, das Moor wird blutrot, Bleßhühner steigen auf und Hasen huschen durch das Heidekraut … dann sollte man ihre Gesichter sehen, diese weiten Augen, die Tränen und die Sehnsucht, dieses Leben wieder zu bekommen. Ich habe bisher 170 Mädchen entlassen können –«
»Und wieviel sind rückfällig geworden?«
»Neun.«
»Gratuliere, Peter. Was sagt deine Aufsichtsbehörde?«
»Nichts. Sie ist eine Behörde. Dort sind Erfolge selbstverständlich, vor allem, wenn man Geld investiert hat. Im Gegenteil … man sagt, daß die Zahl Neun sehr hoch sei …« Dr. Schmidt schüttelte den Kopf, als Dr. Röhrig etwas sagen wollte. Er trat wieder
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