Maengelexemplar
persönlichen Charakterschwächen und Probleme (ich neige dazu, wichtige Sachen zu vergessen. Ich bin eine von denen, die nach einem Streit nochmal anrufen: »Und was ich außerdem noch sagen wollte ...«) sowie einem kurzen Abriss der wichtigsten Ereignisse meiner Kindheit und Jugend gehe ich also zum ersten Psychocasting meines Lebens.
Ich habe keine altbackene, verklärte Vorstellung davon, wie eine Therapeutin aussieht. Ich bin schlau genug, um keine Couch zu erwarten oder eine ältere Dame mit Gleitsichtbrille und Notizblock. Ich bin modern und aufgeklärt und abgewichst.
Ich halte eine Therapie nicht für etwas, das es zu verheimlichen gilt, ich weiß, dass jeder zehnte Deutsche unter einer Depression oder einer anderen psychischen Krankheit leidet, ich weiß, dass die Seele genauso krank werden kann und darf wie der Magen oder die Blutgefäße, ich weiß, dass man bereit sein muss, sich völlig zu öffnen, wenn man Hilfe erwartet.
Völlig offen und energiegeladen erklimme ich die Wendeltreppe zu Frau Görlichs Praxis. Ein wenig zu energiegeladen vielleicht, denn mir wird schwindlig. Frau Görlich erwartet mich schon in der Tür: »Immer mit der Ruhe!«
Damit benennt sie schon die erste tragende Säule meines Mackenlebens. Ich bin ungeduldig. Sachen müssen schnell und ohne Wartezeit geschehen. Alles muss zackzack gehen. Ich kaufe Kleidung, ohne sie anzuprobieren, denn ich weiß, was mir steht und was mir passt, ich habe keine Zeit für Umkleidekabinen. Ich koche nicht. Nicht, weil ich nicht kann, sondern weil ich keinen Nerv für den Aufwand habe. Buffet ist meine liebste Art, auswärts zu essen, denn das Essen ist sofort verfügbar. Sollte doch mal das Rührei in diesen Aufwärmbottichen zur Neige gehen, werde ich nervös. Ich zahle immerhin für die totale Verfügbarkeit. Also sagen Sie dem Koch bitte, dass das Ersatzrührei schon bereitstehen sollte, wenn sich im Bottich eine Zweidrittelleerung ankündigt. Danke.
Diese Schnelligkeit geht durchaus nicht mit fehlender Leidenschaft einher. Ich liebe Kleidung, und ich liebe Essen. Aber schneller bedeutet für mich oft auch mehr. Mehr schöne Kleidung kaufen, und noch mehr wohlschmeckende Nahrung im Magen unterbringen.
Keine Zeit zu verlieren. Ich werd nicht länger warten.
Etwas schwindelig sitze ich also vor Frau Görlich auf einem Ledersessel. Kein romantischer Opa-Ohrenledersessel, sondern einer dieser modernen, die wie das Haus der Hexe Baba Jaga auf einem Fuß stehen und sich drehen lassen. Das ist sehr gut, denn ich bin zappelig. Ich muss immer irgendwas bewegen. In Wartezimmern beispielsweise wippe ich ganz leicht auf meinem Stuhl vor und zurück. In dem Ohrensessel hätte mein Wippen autistisch ausgesehen, ein Eindruck, den ich beim ersten Treffen nicht hinterlassen will, obwohl es mir vermutlich ziemlich sicher ein Ticket für den Recall bescheren würde. Aber ich will mit meinen echten Problemen beeindrucken, also drehe ich mich einfach nur ganz leicht im Drehsessel hin und her.
Frau Görlich hat riesige, freundlich stechende blaue Augen und ein enorm offenes Gesicht. Ich überlege, ob Psychologen in der Zulassungsstelle für Berufe, die mit Menschen zu tun haben, nach ihrem Aussehen ausgewählt werden. Falls ja, wundert es mich nicht, dass sie ihre eigene Praxis hat. Sie ist um die vierzig Jahre alt, hat einen hübsch geschnittenen, natürlich gewellten Kurzhaarschnitt, und überhaupt wirkt alles an ihr so natürlich, dass ich mir plump und verkleidet vorkomme.
»Frau Herrmann, warum sind Sie denn hier?«
Auf die Frage bin ich bestens vorbereitet, ich rattere wie eine Zwölfjährige, die einen uninteressanten Vortrag halten muss, meine aktuellen Problemchen mit mir selbst, dem geliebten Ex-Job, den doofen Nicht-mehr-Freunden und dem ungeliebten Noch-Freund herunter. Außerdem den gesamten Teil meines Lebens, den ich für psychologisch relevant halte: »Ich hatte eine eher doofe Kindheit mit einer unglücklichen Mutter, der hin und wieder die eine oder andere Ohrfeige rausrutschte. Dann war da noch mein sehr bemühter Vater, der mich in jungen Jahren, in denen ich dringend ein wenig Liebe hätte gebrauchen können, lieber an die Perlen der Weltliteratur heranführen wollte. Meine Eltern sind außerdem geschieden, und ich habe einen angeheirateten Onkel, der mich als Kind auf eine Art ›lieb hatte‹, wie man ein Kind eher nicht lieb haben sollte, und mein sehr geliebter Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war.« Etwas aus der
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