Maengelexemplar
cholerisch zeternde junge Frau, die mit rauchender Birne eine Mutter mit Kleinwagen und Parklücke zur Sau macht, werde ich wieder so wütend, dass ich auf und ab hüpfen könnte.
Normale Menschen zählen in diesem Moment wohl bis zehn, aber ich komme gar nicht erst bis zur Zwei. Ich lege sofort los. Kickstart. Von null auf hundert! Wäre ich ein Sportwagen, die Brandenburger Dorfjugend würde sich um mich reißen!
Nach einiger Zeit ist mir die ganze Aufregung peinlich. Nicht in dem Moment, in dem ich den Kindern der Parkplatzdiebin lautstark wünsche, dass sie nie im Leben eine Ausbildung bekommen, und auch nicht in den folgenden Stunden, die ich damit verbringe, alle meine Freunde anzurufen, um die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist, zu teilen. Aber irgendwann später fange ich an, mich leise zu schämen. Taucht allerdings ein neuer Feind auf, bin ich wieder die am schnellsten beschleunigende Emo-Maschine der Welt. Ich lerne aus meinen Fehlern nicht.
Ich beschließe, einfach mal zu einer Psychotherapeutin zu gehen.
Eigentlich habe ich keine besonders großen Probleme. Nicht, dass ich überhaupt keine hätte: Mein cholerisch angehauchtes Ich macht mir schon zu schaffen, und mein Leben ist durchaus etwas im Ungleichgewicht: Ich habe einen ziemlich tollen Job bei einer Event-Management-Agentur verloren. Nach der Ausbildung war ich übernommen worden, und glücklicher hätte man mich nicht machen können. Der Job war mein Zuhause. Seit drei Monaten ist er weg. Jetzt überweist mir meine Oma jeden Monat heimlich meine Miete, und ich kellnere gelegentlich in einer Kneipe.
Die fehlende Arbeit gibt mir Zeit und Muße, in meinem Leben ein wenig aufzuräumen. Also sortiere ich einige zwischenmenschliche Beziehungen, die für mich nicht mehr funktionieren, einfach aus, manche ehemals enge Freunde sortieren sich selbst aus, und ich habe, um ehrlich zu sein, ein wenig das Gefühl, dass sie versuchen, sich freizuschwimmen vom übergroßen Emo-Monster Ich. Bitte sehr, sollen sie doch, ich kann nichts gebrauchen, was mich nicht lieb hat. Ich strauchele nicht. Ich kriege Sachen schon alleine irgendwie hin, muss ja, muss ja.
Ein weiteres Feuer in den Hollywood Hills meines Lebens ist mein Freund Philipp. Wir sind vermutlich einfach nicht füreinander gemacht. Wir versuchen aber schon seit über zwei Jahren sehr erfolgreich, diese kleine Ungereimtheit zu verdrängen. Im Grunde finden wir uns beide gegenseitig doof. Alles an ihm macht mich wahnsinnig, vieles an mir macht ihn wahnsinnig. Jeder von uns denkt regelmäßig an Trennung, keiner hat den Arsch in der Hose. Ich denke, wir haben einfach Angst, allein zu sein. Lieber eine Beziehung mit Streit und fehlenden gemeinsamen Interessen als keine Beziehung. So sind wir jungen Konservativen. Sicherheitsbedürftig, faul und feige.
Mein Leben ist also durchaus unbefriedigend, aber ich kann nicht sagen, dass ich einen enormen Leidensdruck verspüre. Ich fühle mich nicht im klassischen Sinne »reif für eine Therapie«, ich habe einfach Zeit, und ich bin neugierig. Ich möchte wissen, was eine Professionelle über mich denkt, wie sie mich einschätzt. Als ob man sich die Karten legen lässt oder so.
Meine Mama, eine Expertin in Sachen Psyche im Allgemeinen und Depression im Speziellen, ist auch ein großer Fan der Idee, dass ich mich mal mit jemandem unterhalte. Sie glaubt schon länger, etwas in mir schwelen zu sehen, und empfiehlt mir die Therapeutin einer Kollegin, Diplom-Psychologin Frau Görlich.
Telefonisch bekomme ich einen Termin für ein Casting. Ich bin sicher, dass Frau Görlich ein anderes Wort wählte, aber machen wir uns nichts vor, es ist eben doch eine Art Auswahlverfahren für eine Rollenbesetzung. Bin ich verkorkst genug, um ein Recht auf eine Therapie zu haben? Ist mein Lebenslauf steinig genug, um Hilfe zu beantragen? Diese Gedanken mache ich mir vor dem ersten Treffen. Ich ziehe sogar ein Themenoutfit in Erwägung, allerdings scheitert es am Kleiderfundus und vor allem an der nötigen Ahnung. Wie kleidet man sich denn, um möglichst psychisch hilfsbedürftig zu erscheinen? Und will ich überhaupt hilfsbedürftig wirken? Will ich nicht lieber hören, dass mit mir alles top in Ordnung ist?
Vermutlich gilt dieselbe Regel wie für alle anderen Castings auch: möglichst natürlich wirken! Sei ganz du selbst! Ich will so bleiben, wie ich bin!
Make the most of now!
Völlig normal gekleidet, aber mit einer peniblen schriftlichen Auflistung meiner
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