Maerchen Fuer Kinder
würde viel helfen!« Und dann ging sie nach einem Brette, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.
Aber das Renntier bat so sehr für das kleine Gretchen und Gretchen blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Thränen an, daß diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Renntier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
»Der kleine Karl ist noch bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen, und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Das kommt aber davon, weil er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!«
»Aber kannst Du nicht dem kleinen Gretchen etwas eingeben, sodaß sie Gewalt über das Ganze erhält?«
»Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt! Siehst Du nicht, wie groß diese ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie auf bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann ihre Macht nicht von uns erhalten, diese sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, daß sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Karl bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst Du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit roten Beeren im Schnee steht, verliere aber nicht viele Worte und spute Dich, hierher zurückzukommen.« Damit hob die Finnin das kleine Gretchen auf das Renntier, welches lief, was es konnte.
»O, ich bekam meine Schuhe nicht! Ich bekam meine Fausthandschuhe nicht!« rief das kleine Gretchen in der schneidenden Kälte, aber das Renntier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busche mit den roten Beeren gelangte. Da setzte es Gretchen ab, küßte sie auf den Mund und es liefen einige große Thränen über des Tieres Backen, und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand das arme Gretchen ohne Schuhe, ohne Handschuh, mitten in dem fürchterlich eiskalten Finnmarken.
Sie lief vorwärts, so schnell sie konnte; da kam ein ganzes Heer Schneeflocken, aber sie fielen nicht vom Himmel herunter; der war ganz klar und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gretchen erinnerte sich noch, wie groß und künstlich sie damals ausgesehen hatten, als sie die Schneeflocken durch ein Brennglas betrachtet hatte, aber hier waren sie wahrlich noch viel größer und fürchterlicher, sie waren lebend, sie waren der Schneekönigin Vorposten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten; einige sahen aus wie häßliche, große Stachelschweine, andere wie ganze Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, und andere wie kleine, dicke Bären, auf welchen die Haare sich sträubten, alle glänzten weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.
Da betete das kleine Gretchen ihr Vaterunser, und die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Atem sehen konnte, der stand ihr ganz wie Rauch aus dem Munde; der Atem wurde immer dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen, klaren Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten, und alle Helme auf dem Kopf und Spieß und Schild in den Händen hatten. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gretchen ihr Vaterunser geendet hatte, da war ein ganzes Heer um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die greulichen Schneeflocken, sodaß diese in hundert Stücke zersprangen, und das kleine Gretchen ging ganz sicher und froh vorwärts. Die Engel liebkosten ihre Hände und Füße, da fühlte sie weniger, wie kalt es war, und ging rasch gegen der Schneekönigin Schloß vor.
Aber nun wollen wir erst sehen, wie es Karl geht. Er dachte freilich nicht an das kleine Gretchen, und am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schloß stand.
Siebente Geschichte.
Von dem Schlosse der Schneekönigin und was sich später darin zutrug.
Des Schlosses Wände waren gebildet von dem treibenden Schnee und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden, da waren über hundert Säle, alle wie der Schnee sie
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