Maerchen Fuer Kinder
sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.
»Die gehören mir alle!« sagte das kleine Räubermädchen, und ergriff eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, daß sie mit den Flügeln schlug. »Küsse sie!« rief sie, und schlug sie ihr ins Gesicht. »Da sitzen die Waldtauben!« fuhr sie fort, und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loche oben in die Mauer eingeschlagen waren. »Das sind Waldtauben, die beiden, die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht ordentlich eingeschlossen hält; und hier steht mein alter, liebster Bä!« und damit zog sie ein Renntier am Horn, welches einen kupfernen Ring um den Hals trug und gebunden war. »Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer, davor fürchtet er sich!« Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten. Das arme Tier schlug mit den Beinen aus, aber das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gretchen mit in das Bett hinein.
»Willst Du das Messer behalten, wenn Du schläfst?« fragte Gretchen und blickte etwas furchtsam nach demselben.
»Ich schlafe immer mit dem Messer!« sagte das kleine Räubermädchen. »Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was Du mir vorhin von dem kleinen Karl erzähltest, und weshalb Du in die weite Welt hinausgegangen bist.« Gretchen erzählte wieder von vorn an, und die Waldtauben knurrten oben im Käfig und die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte ihren Arm um Gretchens Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, daß man es hören konnte, aber Gretchen konnte ihre Augen nicht schließen, sie wußte nicht, ob sie leben oder sterben würde. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib schoß Purzelbäume. O, es war ganz greulich für das kleine Mädchen mit anzusehen.
Da sagten die Waldtauben: »Kurre, kurre! wir haben den kleinen Karl gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten, er saß im Wagen der Schneekönigin, welche dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Neste lagen; sie blies auf uns Junge, und außer uns beiden starben alle; kurre! kurre!«
»Was sagt Ihr dort oben?« rief Gretchen. »Wohin reiste die Schneekönigin? Wißt Ihr etwas davon?«
»Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Renntier, welches am Strick angebunden steht.«
»Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!« sagte das Renntier; »dort springt man frei umher in den großen glänzenden Thälern; dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt, aber ihr festes Schloß hat sie droben gegen den Nordpol, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!«
»O Karl, kleiner Karl!« seufzte Gretchen.
»Nun mußt Du still liegen,« sagte das Räubermädchen, »sonst stoße ich Dir das Messer in den Leib!«
Am andern Morgen erzählte Gretchen ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das Räubermädchen sah ganz ernsthaft aus, nickte aber mit dem Kopf und sagte: »Das ist einerlei, das ist einerlei! – Weißt Du, wo Lappland ist?« fragte sie das Renntier.
»Wer könnte es wohl besser wissen, als ich!« sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. »Dort bin ich geboren und erzogen, dort bin ich auf den Schneefeldern herumgesprungen.«
»Höre!« sagte das Räubermädchen zu Gretchen, »Du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort, jedoch die Mutter ist noch hier und sie bleibt zu Hause. Gegen Mittag aber trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert dann ein wenig darauf; – dann werde ich etwas für Dich thun!« Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Knebelbart und sagte: »Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!« Die Mutter gab ihr Nasenstüber, daß die Nase rot und blau wurde, aber alles aus lauter Liebe.
Als die Mutter dann aus der Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Renntier hin und sagte: »Ich könnte große Freude davon haben, Dich noch manchesmal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist Du so possierlich; aber das ist einerlei, ich will Deine Schnur
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