Maerchenerzaehler
gegangen waren. Abel ging als Erster. Schließlich saß nur noch der Knaake an seinem Pult. Er sah Anna an, stand auf, schloss die Tür und setzte sich wieder. Er sagte nichts. Er holte eine Thermoskanne mit Tee aus seiner Tasche und goss den Thermosbecher voll. Er hatte es nicht eilig.
»Ich muss mit jemandem reden«, sagte Anna.
Er nickte. Er fragte nicht: Was ist passiert?
»Nehmen wir an, es wäre etwas passiert«, sagte Anna. »Etwas … Schlimmes, zwischen Abel und mir. Etwas, das zu tun hat mit … Vertrauen …« Sie legte ihre Hände an die Wangen und merkte, dass sie glühten. Sie hasste sich dafür, dass sie rot wurde. »Etwas, über das man nicht sprechen kann … Nehmen wir an, ich wäre eigentlich schuld, auf einem Umweg. Auch wenn Gitta findet, dass das Unsinn ist. Vielleicht ist es ja Unsinn. Vielleicht … nehmen wir an, ich wäre also nicht schuld …«
»Nehmen wir das an«, sagte der Knaake und trank einen Schluck Tee.
»Ich meine, ich habe ihm vertraut«, sagte Anna leise, ohne den Knaake anzusehen. »Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Sie wissen von den beiden Morden … Lierski … das war der Vater von Abels kleiner Schwester. Abel hat ihn gehasst. Er hatte Angst, dass er Micha … dass er ihr etwas tut. Ich glaube, er war bekannt dafür, dass er … eine Vorliebe für kleine Mädchen hatte. Vielleicht stimmt es nicht, aber Abel war so sicher. Sie haben jemanden für den Mord an Lierski eingesperrt, jemanden, der die richtige Waffe besitzt und der Lierski kannte, aber ich weiß nicht, ob er es war … Und dann Sören Marinke, am Strand, Sie haben es ja im Radio gehört. Das war der Sozialarbeiter, der kurz vorher bei Abel und Micha vor der Tür stand. Abel ist noch nicht achtzehn, aber das wissen Sie, und theoretisch müsste Micha zu irgendwelchen Verwandten, weil ihre Mutter weggegangen ist, oder in eine Pflegefamilie, aber er weigert sich, das zuzulassen … ihre Mutter, Michelle, die Sie ja nicht kennen …« Sie sah auf.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Anna. Ich kenne sie nicht.«
Und woher hatte Michelle die alten Cohen-Kassetten?, dachte Anna. Wie viele Leute gibt es, die so was hören? Sie kannte bis jetzt drei: Michelle, ihre Mutter … und den Knaake.
»Michelle ist verschwunden«, schloss Anna. »Seit ein paar Wochen. Sie ist allerdings irgendwo in der Gegend. Sie hat Geld vom Haushaltskonto abgehoben. Am Sparkassenautomaten in Eldena.«
Der Knaake sah in seinen Thermosbecher, als könnte er Michelle Tannatek darin finden, wenn er nur lange genug hineinstarrte. Als wüsste er genau, wie die Frau aussah, nach der er suchte.
»Es gibt dieses Märchen«, flüsterte Anna. »Das Abel seinerSchwester erzählt. Manchmal kommen Leute darin vor, die es wirklich gibt. Manchmal erkenne ich sie zu spät. Sören Marinke habe ich zu spät erkannt. Er ist auch im Märchen gestorben. Die Bösen müssen alle sterben. Aber wer bestimmt, dass sie böse sind? Ich … ich habe Angst. Angst, dass noch jemand tot unter dem Schnee gefunden wird. Noch jemand mit einem Genickschuss.«
»Aber du gehst nicht zur Polizei.«
»Nein. Ich …« Sie sagte nicht: … liebe ihn. Es hätte so abgedroschen geklungen.
Der Knaake stand auf und ging zum Fenster, den Thermosbecher in der Hand.
»Es gibt so viele Möglichkeiten«, sagte er. »Unendlich viele Möglichkeiten. Ich bin kein Detektiv. Aber vielleicht gibt es mehr Möglichkeiten als die, die du siehst.«
Sie hob den Kopf. »Ja?«
»Möglichkeit eins ist die einfachste«, sagte der Knaake. »Abel Tannatek hat beide Männer erschossen, den ersten, weil er ihn gehasst hat, und den zweiten … warum hat er den zweiten erschossen? Macht es Sinn, einen Sozialarbeiter zu erschießen? Ein Sozialarbeiter ist eine Mensch gewordene Funktion des Staates, er wird ersetzt. Wenn du einen erschießt, kommt der nächste.« Er lachte. »Es ist wie ein Computerspiel.«
»Und die zweite Möglichkeit?«
»Möglichkeit zwei: Jemand anders hat die beiden erschossen. Und hier haben wir wieder zwei Möglichkeiten. Jemand hat die beiden erschossen, um Abel zu helfen. Oder … jemand hat es getan, um ihm die Morde in die Schuhe zu schieben. Aber das klingt alles ein bisschen zu sehr nach einem schwarz-weißen Mafiafilm.«
»Gibt es denn noch eine Möglichkeit?«
»Sicher. Dutzende. Warum zum Beispiel glauben wir, dass es beide Male der gleiche Mörder war? Wegen des Genickschusses? Übrigens eine unschöne Methode, jemanden
Weitere Kostenlose Bücher