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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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umzubringen. Man braucht ihm nicht in die Augen zu sehen. Die Nazis waren bekannt für solche Exekutionen.«
    Anna schnappte nach Luft.
    »Sie glauben … es waren zwei unterschiedliche Personen?«
    »Es ist nicht ausgeschlossen, oder? Der Zweite hat die Methode des Ersten kopiert.«
    »Sie sind doch ein Detektiv«, sagte Anna und lächelte. Sie stand auf und trat zu ihm ans Fenster. Der Knaake lächelte.
    »Ein schlechter. Ich leite einen Deutschkurs der Abiturklasse, aber ich lese durchaus meinen Teil an Schundkrimis. Nimm an … nimm an, Abel hat Rainer Lierski erschossen. Dazu hatte er einen Grund, wenn es so ist, wie du sagst.«
    »Und jemand anders hat Marinke erschossen? Damit es so aussieht, als wäre es Abel gewesen?«
    »Zum Beispiel. Oder … oder alles ist ganz anders. Vielleicht ist da draußen jemand unterwegs, der völlig irrational handelt. Der tatsächlich glaubt, ein Problem zu beseitigen, indem er einen Sozialarbeiter umbringt. Der Abel und Micha schützen will, aber nichts begreift. Eine Person, die selbst am Ende ist und glaubt, nur noch aus dem Hinterhalt helfen zu können, eine Person, die diesen Lierski vielleicht auch hasste für etwas, das er getan hat … die sich ihren Verstand und ihren Charme vor langer Zeit weggesoffen hat …«
    Anna drückte ihre Nase an die kalte Scheibe. Unten im Hof stand eine dunkle Gestalt bei den Fahrradständern, die Hände tief in den Taschen, die schwarze Wollmütze über die Ohren gezogen.
    »Jemand, der völlig irrational handelt«, wiederholte Anna flüsternd. Sie sah den Knaake an. »Wer?«
    »Michelle«, sagte der Knaake.
    Der Gedanke war neu und seltsam und der Knaake schüttelte auch sofort den Kopf.
    »Natürlich sind das nur Spekulationen.« Er ging zum Pult zurück und schraubte die Thermoskanne zu. »Wie gesagt, ich kenne Abels Mutter nicht. Aber wenn du willst … ich könnte versuchen, etwas herauszufinden. Es wäre wie ein Spiel. Eine Abwechslung davon, zwischen Arno Schmidt und Schundkrimis langsam einzustauben.«
    Er schüttelte sich, als müsste er den Staub aus seinem beinahe grauen Bart schütteln.
    »Ein gefährliches Spiel«, sagte Anna leise.
    »Besser, ich spiele es, als du«, sagte der Knaake. Und dann legte er ihr eine Hand auf den Arm, ganz plötzlich. »Anna, ich mache mir ja nicht nur Sorgen um dich. Da unten ihm Hof steht jemand und leidet. Ja, das klingt jetzt nach Werther, entschuldige, furchtbar – ich weiß nicht, was passiert ist zwischen euch. Ich weiß nicht, ob es vergeben werden kann. Womöglich nicht. Am schwierigsten ist es immer, sich selbst zu vergeben.«
    »Und das klingt nach Laotse«, sagte Anna. »Tausendundein Kalenderspruch.«
    Der Knaake nahm seine Aktentasche unter den Arm und ging zur Tür. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob morgen jemand zur Schule kommt. Sie haben Schneechaos angesagt.«
    »Ich denke«, murmelte Anna, »ehe das Chaos da ist, fahre ich noch einmal hinaus nach Ludwigsburg. Vielleicht kann man dort besser über Kalendersprüche nachdenken.«
    Schneechaos? Es taute. Vor dem Fenster des Kollegstufenzimmers fielen tausendundein Tropfen leise in den schmelzenden Schnee, tausendundein Sonnenreflex glitzerte an den feuchten Scheiben. Und der tausendunderste Kalenderspruch setzte sich in Anna fest. Am schwierigsten ist es, sich selbst … Unsinn.
    Abel stand nicht mehr bei den Fahrradständern. Es war, als wäre auch er weggetaut, mit dem Schnee verschwunden. Sie stieg auf ihr Rad, spürte noch immer den Schmerz zwischen den Beinen, der sie vielleicht nie wieder verlassen würde, und fuhr nicht nach Hause. Der Wind frischte auf, es war ein warmer Tauwind, er trieb sie aus der Stadt, den Radweg an der Wolgaster Straße entlang, weit über das Ostseeviertel hinaus, an der Abzweigung nach Wieck vorbei, am Elisenhain und dem Neubaugebiet in Eldena – hinaus nach Ludwigsburg. Im Sommer war es voll dort, der Strand war wilder und länger als in Eldena, ein Strand voll versteckter Nischen und Winkel im hohen Gras. Anna ließ ihr Rad bei dem lang gestreckten, alten Café stehen, auf dessen Reetdach sich der Schnee gesammelt hatte.
    Sie ging zwischen den windgebeugten Kiefern hinab zu dem schmalen Strand. Draußen auf dem Eis drängten sich die hellen Schwäne und die schwarzen Blesshühner zu seltsam beweglichen Klumpen zusammen. Man konnte über die Bucht bis nach Wieck laufen, das Café lag genau gegenüber. An diesem Tag war niemand dort unterwegs.
    Sie wanderte den

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