Nuke City
1
Als er sie ansah, dachte er unwillkürlich an die Gewitter, die er in seiner Kindheit erlebt hatte…
Er war in den Plains aufgewachsen, weit westlich des Mississippi, aber nicht so weit, daß die Rockies mehr gewesen wären als die Andeutung einer dunklen Linie am Horizont - an klaren Tagen. Gewitter waren mittlerweile in jeder Jahreszeit alltäglich, und er und seine Freunde hatten die Gewitter begleitet, wenn diese sich über der Prärie austobten. Es war dreizehn Jahre her, daß der Große Geistertanz die Macht der Vereinigten Staaten von Amerika gebrochen hatte, und Kyle Teller war neun Jahre alt.
Die Gewitter seien ein Zeichen für die Zufriedenheit der Großen Geister darüber, daß ihr Volk das Land zurückbekommen habe, sagten die Stammesschamanen. Kyle und seine Freunde pflegten in der Kühle des frühen Abends herumzutoben, zu schreien und einander zu jagen, wobei jeder die Rolle eines der mächtigen Totems übernahm, die zurückgekehrt waren, um die Leute aus ihrer Unterdrückung zu befreien.
Sie lauschten den auffrischenden Winden, schnupperten die Gerüche, die in der Luft lagen, während sie das Wiedererwachen der Magie feierten und genau beobachteten, wo das nächste Gewitter entstehen und in welche Richtung es ziehen würde. Dann, wenn sie ihre Energie verpulvert hatten, kehrten sie nach Hause zurück, beendeten ihre Hausaufgaben und bereiteten sich auf den nächsten Schultag vor. Kyle brauchte nicht so viel zu lernen wie die anderen, mußte sich aber dennoch vorbereiten. Seine Mutter war angloamerikanischer Abstammung, was bedeutete, daß er sich mit schlimmeren Dingen auseinanderzusetzen hatte als mit Schularbeiten.
Aber was die Gewitter betraf, war Kyle der Beste. Es gab Zeiten, in denen er ihre Energien tief in sich spüren konnte, bevor sich erste Anzeichen ihrer Entstehung manifestierten. Und wenn das Gewitter dann tatsächlich ausbrach, war es für ihn so, als entfalte sich eine elementare Blume, langsam und unaufhaltsam, bis es nichts mehr gab, was sie daran hindern konnte, über dem ganzen Land aufzublühen. Er sah die Entwicklung, spürte die Strukturen und konnte erkennen, wo das Gewitter seinen Anfang nehmen und wie lange es dauern würde. Wenn er mit den anderen Kindern spielte, war er immer Koyote, denn nur der alte Gaukler konnte einen Halbwüchsigen mit solch einem Scharfblick gesegnet haben.
Oft hörte er die Ältesten Lieder singen, daß die großen Winde und Regen Geister waren, die sich der Kontrolle durch den Menschen entzogen und für die Vernunft nicht zu ergründen seien. Einmal hatte Kyle einen dieser Geister sogar mit eigenen Augen gesehen, und zwar bei einer Anrufung in der Nähe von Salina, der er und seine Schwestern mit ihrem Großvater beigewohnt hatten.
Dort war der Geist von drei jungen Schamanen beschworen worden. Stolz und ungestüm hatten sie in ihrer neuen Macht geschwelgt, den legendären Geist erscheinen zu lassen. Dies sei ein großes und mächtiges Wesen, vom Herzen der Luft und des Himmels erfüllt, hatte einer der Schamanen gesagt. Eine Macht, die respektiert und geehrt werden müsse, ergänzte ein anderer. Kyle hatte zugesehen, wie der übernatürliche Turm aus wirbelnder, gleißender Luft, Dunst und majestätischer Würde für die vielen Tausenden sichtbar wurde, die sich auf dem verfallenen Parkplatz eines ehemaligen Supermarkts versammelt hatten.
Der Geist, sagte einer der Schamanen, tanze mit den Energien des Lebens. Ungebunden sei der Geist ein Gewitter, unerklärlich und unverständlich. Auch als ehrfürchtiges und verängstigtes Kind hatte Kyle ihre Worte seltsam gefunden.
Zu Hause hatte er viele heraufziehende Gewitter beobachtet, draußen auf den mit Unkraut überwachsenen Feldern hinter dem Haus, hatte sie gespürt, wie sie über die Prärie rasten, und ausschließlich Kräfte gesehen, die er verstehen konnte. Gewiß, die Gewitter entzogen sich jeglicher Kontrolle, aber er konnte erkennen, wie sie durch Temperaturänderungen und aus dem Zusammenspiel anderer Kräfte entstanden. Er konnte sehen, wie sich ein Blitz bildete, und spüren, wie er vom Boden zum Himmel sprang. Und er begriff. Dieses Wissen entzückte ihn, aber er spürte nichts Rätselhaftes, Unergründliches und auch nicht den Drang, in seiner Gegenwart zu tanzen.
Erst Jahre später hatte er erfahren, warum er die Dinge so sah, wie er es tat - was wenige andere konnten. Sogar die Schamanen, zu denen ihn seine Eltern brachten, als sie schließlich sein Talent zur
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