Maerchenerzaehler
wusste er. Der Wolf kennt sich selbst genau.«
Sie spürte das warme, schwer atmende Gewicht noch immer auf sich, sie spürte seinen Atem im Nacken und den Schmerz, sie krümmte sich am Geländer der Fußgängerbrücke zusammen und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, aber ihr Magen war zu leer.
Der Wolf kannte sich selbst genau und er hatte sie gewarnt. Es war ja ihre Schuld, es war alles ihre Schuld gewesen. War es das?
Und dann hörte sie Gittas Stimme in ihrem Kopf, klar und deutlich. Nein, sagte Gitta. Den Schuh musst du dir wirklich nicht anziehen, mein Kind. Das ist es doch, was sie alle hinterher behaupten. Die Männer. Du bist doch viel zu intelligent, um zu glauben, was sie sagen. Sie hat es so gewollt, sagen sie …
»Aber ich habe es gewollt«, flüsterte Anna.
Unsinn, sagte Gittas Stimme. Sie klang direkt wütend. Du wolltest mit ihm schlafen, klar, mein Kind, das verstehe ich, Zeit wird es ja, dass du mit diesen Dingen anfängst, was? Ich verstehe sogar die Bootshalle, das war deine Chance, immerhin ein Ort ohne Schnee und ohne Micha. Aber du konntest nicht wissen, dass er so austickt. Ich meine, es ist ja nicht so, dass PSYCHO auf seine Stirn tätowiert ist …
»Ich hätte auf ihn hören sollen. Ich …«
Verdammt noch mal! Du hast gedacht, er ist schüchtern. Er traut sich nicht. Das hast du doch gedacht, erzähl mir nichts … Hätte ich auch. Jetzt hör auf mit dieser Scheiße von wegen Ich-bin-schuld … Anna schüttelte den Kopf, schüttelte Gittas Stimme heraus, aber es nützte nichts. Sie erinnerte sich jetzt an Worte, die Gitta schon viel früher gesagt hatte, damals, in ihrer absichtlich rauen Art, auf einem steril abwaschbaren Sofa.
Da holst du dir höchstens was weg.
Und wenn sie recht hatte? Sie fragte sich, ob es schlau wäre, einen Bluttest zu machen, irgendwo, anonym, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was sie sagen sollte, denn auch das Blut für anonyme Tests nimmt eine nicht anonyme Person ab.
Was ist denn geschehen, Frau Leemann? Handelt es sich hier um eine …
»Nein«, sagte sie laut, »nein, was Sie denken, ist das falsche Wort, ich weiß, was Sie denken, Sie denken, Vergewaltigung, das Wort ist so hart … aber es ist nicht so, dass er mir irgendwo aufgelauert hätte. Ich habe damit angefangen … er ist … er war … vielleicht … mein Freund. Aber das ist er nicht mehr und vielleicht ist er ein Mörder und es ist alles vorbei. Es ist vorbei.«
Ihr wurde bewusst, dass sie im Schnee auf der Brücke kniete, sie kniete schon wieder, verdammt.
Vorbei. Das war ein viel schlimmeres, viel härteres Wort als dasandere. Es war ein Wort, das sie zum Weinen bringen wollte. Sie ließ es nicht.
Da war noch etwas – etwas, das ihr plötzlich einfiel.
»Und ich frage mich«, flüsterte sie, noch immer im Dialog mit einer nicht existenten Person, die ihr in einer nicht existenten (steril abwaschbaren) Praxis Blut abnahm und Fragen stellte. »Ich frage mich plötzlich … er hat eine kleine Schwester, und ich frage mich, wie sehr er sie liebt und auf welche Weise. Ob er sie … ob er mit ihr …«
Die Luft wurde ein paar Grad kälter, als sie ohnehin schon war. »Vielleicht ist das der Grund«, sagte sie, »weshalb er niemanden an Micha heranlässt. Was, wenn Sören Marinke diesen Verdacht auch hatte? Und wenn er deshalb sterben musste?«
Sie dachte an Micha in ihrer rosa Plastikjacke mit dem Kunstfellkragen, an ihre blassblonden fliegenden Zöpfe, an Abels Finger in ihrem Haar. An das Hochbett. Wir passen zu zweit hinein, hatte Micha zu ihr gesagt, oder so ähnlich. Abel und ich haben auch beide Platz darin. Micha in ihrer unschuldigen Art, Micha, die noch nicht wusste, was richtig und was falsch war. War Abel das, was er Rainer Lierski vorgeworfen hatte?
Sie zog sich an den Stäben des Brückengeländers hoch.
»Ich muss etwas tun«, sagte sie, doch sie sagte es leise, sie hörte sich kaum. »Ich muss die Wahrheit herausfinden. Ich muss mit jemandem über alles sprechen, mit jemand Realem. Womöglich mit der Polizei, mit demjenigen, der Marinkes Tod untersucht …«
Als sie die Brücke verließ, schloss sie kurz die Augen und sah wieder vor sich, wie Abel über einen grauen Schulhof flog und Micha durch die Luft schleuderte, und sie spürte wieder, wie er sie in die Arme nahm, im Raum des Deutschkurses 1, in einem Turm ausZeitungspapier. Sie konnte mit niemandem sprechen. Am allerwenigsten mit der Polizei.
Sie konnte es nicht. Sie liebte
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