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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihn noch immer. Sie würde vielleicht nie aufhören, ihn zu lieben.
    Anna hatte nicht nur den Kontakt zur Realität verloren, sondern seltsamerweise auch den Kontakt zu ihrer Querflöte. Sie hatte die Flöte im Rucksack gehabt, dumm genug in der Kälte, die Flöte war stummer Zeuge dessen, was in der Bootshalle geschehen war. Sie wickelte sie in den dunkelblauen Strickpullover aus dem Aldi-Sonderangebot und legte sie in ihren Schrank. Sie rief ihre Lehrerin an und sagte die Stunde für diese Woche ab, ohne einen Grund zu nennen. Zum ersten Mal seit Langem setzte sie sich wieder an das Klavier im Wohnzimmer, früher hatte sie viel gespielt, sich dann aber für die Silbertöne der Flöte entschieden. Für den LK hatte sie nur ein Instrument gebraucht. Jetzt schien ihr das Klavier sicherer, ein Ort des Rückzugs, den weder Abel noch Micha mit ihrer Anwesenheit berührt hatten. Sie übte die Stücke, die sie üben musste, auf den Tasten. Unsinn, natürlich, sie konnte die Flöte nicht auf ewig im Kleiderschrank vor sich selbst verstecken.
    Die immer gleichen Atemzüge des Hauses schienen ihr auf einmal weit fortgerückt: Sie sah Magnus die Rotkehlchen füttern. Sie sah zu, wie Linda Gemüse klein schnitt. Es waren Handlungen auf einem Bild, das sie von außen betrachtete. Sie selbst, Anna Leemann, befand sich auf der anderen Seite, sie hatte keinen Anteil an den Dingen, die auf der Leinwand geschahen.
    Am Dienstagmorgen lag ein weiterer Umschlag im Flur, durch den Briefkastenschlitz eingeworfen. Weiß wie Schnee, weiß wie weißes Rauschen, mit ihrem Namen darauf. Sie zerriss auch diesen Umschlag zu winzigen Flocken und ließ sie in die Mülltonne rieseln. Sie ging wieder zur Schule: Vier Stunden Besprechung mit dem Musikkurs, sie erwähnte nicht, dass sie ihre Flöte nicht mehr anrührte. Sie sah Abel unten über den Hof gehen. Er hob den Kopf, vielleicht wusste er, hinter welchem Fenster sie saß, und sie sah weg. Ihr war auf einmal schwindelig.
    In ihrem Kopf flüsterte Gitta, die gar nicht da war, wieder Worte, wütende Worte: Denk jetzt nicht schon wieder Dinge über Schuld, die du haben könntest, mein Kind. Weißt du, was man mit Männern machen sollte, die solche Dinge tun? Ich hätte da ein paar Ideen …
    Anna dachte, sie würde es nicht schaffen, in der Pause das Kollegstufenzimmer zu betreten, in das Frauke sie nach der Musikstunde drängte. Sie hatte Angst, dass Abel dort war. Er war dort. Er saß auf der Heizung, hinten in einer Ecke, und drehte eine Zigarette, die er draußen würde rauchen müssen. Er sah auf, als sie hereinkam, ganz kurz, und wandte den Blick ab. Er konnte nicht fliehen, er saß dort in seiner Ecke gefangen, zwischen der amorphen Masse anderer Kollegstufler, und Anna konnte nicht wieder gehen, nicht Hals über Kopf, nicht ohne dass Frauke fragen würde, was los wäre … Es war eine unmögliche Situation.
    Anna schaffte es, zu bleiben. Sie schaffte es, mit Frauke einen ungenießbaren Kaffee aus der ewig kaputten Maschine zu trinken und geschlagene fünf Minuten lang über Nebensächlichkeiten zu reden, was vielmehr hieß, dass Frauke redete und sie so tat, als hörte sie zu. Sie hatte Abel den Rücken zugewandt und spürte seine Anwesenheit.
    Mittags stand er wieder draußen an seinem gewöhnlichen Platz, sie sah ihn vom Fenster aus, er hatte die Mütze über die Ohren gezogen und die Hände in den Taschen vergraben, die Stöpsel des Walkmans in den Ohren, alle Fenster zur Außenwelt geschlossen. Einmal sprach er kurz mit zwei Typen aus dem Bio-LK, vielleicht gab er ihnen etwas, sie konnte es nicht sehen.
    Er war nicht mehr Abel. Er war wieder Tannatek, der polnische Kurzwarenhändler, von dem keiner wusste, was er auf der Schule wollte, und vor dem Leute wie Anna ein wenig Angst hatten.
    Sie fragte sich, ob es dabei bleiben würde. Ob alles wieder so war wie früher, ob sie so tun konnte, als hätte sie Abel nie gekannt.
    Nein. Es war nicht alles wie früher. Rainer Lierski war tot. Sören Marinke war tot. In einer Bootshalle war nächtliches Blut auf den Boden getropft. Und ein kleines Mädchen mit blassblonden Zöpfen und rosa Jacke wanderte irgendwo über das Eis eines Märchens, hilflos in Wind und Wetter. Im Radio sagten sie einen Schneesturm vorher.
    »Liebes Kind«, sagte Gitta und stand einfach vor der Tür, diesmal ganz real und greifbar. Natürlich, dachte Anna, sie hatte all die Dinge gar nicht gesagt, die Anna sich vorgestellt hatte. »Liebes Kind, was ist los?«
    »Ich

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