Maerchenerzaehler
Abel zurück in Richtung Ufer und zogen die Schlittschuhe aus und machten ein Picknick zwischen den nachdenklich übereinandergetürmten Rätselschollen.
»Pass bloß auf mit dem Kakao«, sagte Abel. »Mach die Jacke lieber wieder zu. Wir müssen heute nicht noch einen Pullover verbrauchen. Du weißt, dass die Waschmaschine seit letzter Woche hinüber ist.«
»Du hast doch gesagt, wir können auch so waschen«, meinte Micha.
»Ja«, sagte Abel und seufzte. »Morgen ist Waschtag, wie in den alten Zeiten, in denen die wirklichen Märchen spielen. Aber es dauert, Micha, es dauert. Wir haben schon genug zu waschen.«
»Kann man … die Maschine nicht reparieren?«, fragte Anna.
Abel schüttelte den Kopf. »Das Ding ist museumsreif. Man müssteeine neue kaufen. Irgendwann mache ich das. Aber ich muss dazu das Ausbildungskonto benutzen, und ich brauche noch eine Weile, um mich dazu durchzuringen.«
Anna dachte an das Haus voll blauer Luft und die Waschmaschine im Heizungskeller, die einfach ausgetauscht wurde, wenn sie kaputtging. Durchs Kellerfenster konnte man die Rotkehlchen hören, wenn man unten auf dem großen alten Holztisch Hemden bügelte.
»Solange du dich durchringst«, sagte sie, »könntet ihr bei uns waschen. Es geht schnell. Wir haben einen Trockner. Ihr könntet morgen vorbeikommen und eure Wäsche einfach mitbringen und wir jagen sie einmal durch die Maschine, und abends nehmt ihr sie trocken mit nach Hause. Es spart eine Menge Zeit. Zeit, die du fürs Lernen brauchen könntest.«
»Oh ja!«, rief Micha. »Und ich kann wieder Annas Bücher angucken und in die Flöte pusten und das Kaminfeuer ansehen und …«
»Und deine Eltern?«, fragte Abel.
»Sind vielleicht zu Hause«, antwortete Anna. »Und werden niemanden fressen.«
Sie sah ihn an und er wich ihrem Blick aus. Schließlich legte er die Hände vors Gesicht, atmete tief durch und nahm sie wieder herunter. »Gut«, sagte er. »Gut, wir kommen.« Er stand auf und klopfte sich den Schnee von der Hose. »Ich springe über tausend Schatten«, sagte er. »Es ist nicht so leicht, weißt du.«
»Solange du es besser kannst als Schlittschuh laufen«, meinte Anna und stand ebenfalls auf.
Sie wollte noch etwas sagen, aber das ging nicht, weil er sie küsste.
Die allerschönsten Tage. Es waren nur zwei. Ein Tag, an dem Abel nicht Schlittschuh laufen lernte, und ein Tag, an dem die Wäsche nicht trocknete.
Sie holten Micha am Freitag zu zweit von der Schule ab. Die Lehrerin, mit der Anna schon einmal gesprochen hatte, stand mit Micha auf dem Schulhof, als Abel und Anna mit den Rädern durch den Schnee geschlittert kamen. Es schneite noch immer, die Straßen waren so verstopft wie am Tag zuvor.
»Abel Tannatek«, sagte die Lehrerin zu Abel. »Mein Name ist Mirkowicz. Ich bin Michas Lehrerin. Und Sie sind ihr Bruder, nicht wahr?«
»Das bin ich«, antwortete Abel. »Und jetzt haben wir beide etwas zu tun.«
»Warten Sie.« Die Lehrerin streckte einen Arm nach ihm aus, wagte dann aber doch nicht, ihn wirklich festzuhalten. »Ich würde wirklich gern mit Ihrer Mutter sprechen. Ich bemühe mich schon so lange um ein Gespräch …«
»Gibt es denn Probleme?«, fragte Abel, Micha jetzt an der Hand. »Probleme im Unterricht?«
»Nein, das nicht, es ist nur … Micha hat erzählt, ihre Mutter ist verreist, und sie scheint mir schon so lange verreist zu sein … ist es wahr?«
»Ja«, sagte Abel. »Ja, sie ist verreist.«
»Und wer kümmert sich um Micha?«
»Der Weihnachtsmann«, knurrte Abel und half Micha auf seinen Gepäckträger.
Frau Mirkowicz starrte ihnen nach, als sie losfuhren, in ihrem Gesicht reines Unverständnis.
»Wie soll sie denn etwas verstehen?«, fragte Anna. »Du bist grausam. Sie kann doch nichts dafür! Sie ist nur eine Lehrerin, die sich Sorgen macht.«
»Sie ist eine Person, die zu viel schnüffelt«, sagte Abel. »Vielleicht hat sie uns das Sozialamt auf den Hals gehetzt. Vielleicht war es gar nicht die Ketow. Wir warten übrigens immer noch auf den nächsten Sozialarbeiter. Es sieht so aus, als hätten sie Marinkes Fälle erst mal auf Eis gelegt … womöglich haben wir Glück. Womöglich erinnern sie sich erst nach dem dreizehnten März an uns.«
Anna hätte sich gewünscht, dass Linda und Magnus erst später kämen, so wie am letzten Freitag, aber Freitage waren irreguläre Tage in dem Haus mit der blauen Luft, und sie waren beide da. Sie hatte sie natürlich vorgewarnt wegen der Wäsche. Sie fragte sich, ob sie
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