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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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aber das Eis war verschneit, selbst die dünne Schicht in der Mitte des Flusses, wo die Eisangler es mit ihren Hacken durchlöcherten und das Wasser später wieder gefror, ein Netz aus trügerischen Fallen. Er wusste, wo das Eis dünn wurde, er brauchte es nicht zu sehen.
    Er zog seinen Schal enger. Wie kalt es war! Dieser Winter war kälter als irgendeiner zuvor, an den er sich erinnern konnte, und er hatte eine Menge Winter erlebt. Um genau zu sein, dreiundsechzig.
    Die Lichter des Restaurantschiffs strahlten über das Eis herüber, schwach, als kämen auch sie nicht gegen die Kälte an. Er sah auf die Uhr. Halb zehn. Er war zu früh. Sie würde erst in einer halben Stunde da sein. Sie hatte diesen unaussprechlichen Namen … Milowicz? Mirkolicz? Sie war erstaunt gewesen, als er sie angerufen hatte. Vielleicht wusste sie nichts, vielleicht nützte dies alles nichts. Aber vielleicht doch. Vielleicht konnten sie gemeinsam etwas herausfinden.
    Etwas retten. Er hatte das Gefühl, dass die Situation dem Jungen entglitt. Jemand musste helfen.
    Er war sich noch immer nicht sicher, was passiert war. Michelle, zum Beispiel. Er hatte das Gefühl, dass Anna recht hatte, dass sie wirklich in der Nähe war, so nah, dass sie gerade deshalb übersehen wurde. Nur wo? Er hatte ein paar Dinge herausgefunden, natürlich. Er hatte einen Verdacht. Doch er war sich noch nicht sicher. Eine Sache, die er jetzt wusste, hätte er lieber nicht herausgefunden. Sie machte ihn traurig. Viel zu traurig. Er ging über die Brücke zu dem Ufer, wo das Restaurantschiff lag, ging die Stufen hinunter und betrat das Eis. Hier am Rand war es fest. Er würde nur ein paar Schritte gehen.
    Und dann hörte er, dass jemand hinter ihm war. Die Schritte wurden beinahe verschluckt vom Schnee, aber sie waren da. Irgendjemand, dachte er, der an einem Freitagabend vom Restaurantschiff kommt und sich die Füße vertritt, oder jemand, der wartet wie ich. Er drehte sich um, er sah eine Silhouette, verschwommen vor den blassen Lichtern des Schiffs. Hier auf dem Fluss war es zu dunkel. Er hatte keine Lust, jemanden zu treffen. Er drehte sich um und ging weiter, den zugefrorenen Fluss entlang, dort vorne würde er über die Stufen wieder hinaufgehen und dann zurück, und dann wäre es zehn … Die Schritte kamen näher. Vielleicht war sie das? Vielleicht war sie ebenfalls zu früh gekommen und hatte ihn gesehen? Er befand sich jetzt so weit außerhalb der Lichter, dass es völlig dunkel war. Er hatte gedacht, die Lichter der Straße am anderen Ufer würden an dieser Stelle aufs Eis fallen, aber die klobigen Körper der überwinternden Schiffe, jener antiken, hölzernen Ungeheuer, die hier lagen – sie schlossen das Licht aus.
    Er spürte, wie die Angst in ihm hochkroch. Er glaubte nicht wirklich, dass sie es war. In den letzten beiden Tagen war er es gewesen, der gefolgt war, der verfolgt hatte, ungesehen hoffentlich, ungehört. Jetzt schien jemand den Spieß umgedreht zu haben. Die schemenhafte Gestalt hinter ihm kam näher. Sie schnitt seinen Weg zum Land ab, und er merkte, dass seine Schritte ihn weiter hinaus in die Flussmitte führten. Er erreichte die Stelle, wo das Eis bei den Löchern der Angler dünn wurde, oder wo er glaubte, dass es dünn wurde, und blieb stehen.
    Es war Unsinn, wegzulaufen. Er wollte jetzt wissen, wer ihm folgte. Er wollte mit dieser Person reden. Er hatte noch immer Angst, aber er war dreiundsechzig Jahre alt, es war nicht so, als hätte er noch nie Angst gehabt, und bisher hatte er seine Angst immerbesiegt. Es war schließlich nicht so, dass er sich draußen an einem einsamen Strand befand. Er befand sich mitten im Museumshafen, mitten in der Stadt, das Restaurantschiff war ein paar Hundert Meter weit entfernt, die Straße noch weniger.
    Er wandte sich um und wollte der Gestalt entgegensehen, die ihm folgte, doch die Gestalt war schon da. Sie stand direkt vor ihm. Er blickte nicht in ein Gesicht. Er blickte in die Mündung einer Waffe. Natürlich erkannte er das Gesicht dahinter. Auch hier im Dunkeln. So dunkel war es auch wieder nicht. Er merkte, dass er keuchte vor plötzlich aufwallender Furcht – und vor Erstaunen.
    »Du?«
    »Natürlich«, antwortete die Gestalt. »Wusstest du es nicht? Wusstest du es nicht längst?«
    »Ich …« Er machte einen Schritt rückwärts und das Eis knirschte unter seinen Füßen. Direkt hinter ihm musste sich eines der überfrorenen Löcher befinden.
    »Du hast angefangen herumzuschnüffeln«,

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