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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Diamantensammler hat sie bezahlt, und die Juwelierin bezahlt sie auch. Aber wir, kleine Königin, wir haben sie nie bezahlt. Was hätten wir ihnen geben sollen? Einen Apfel aus dem Garten der Insel?‹
    ›Einen Splitter des Diamanten‹, bemerkte die weiße Katze und gähnte, und die kleine Königin erschrak.
    ›Aber wenn wir sie mit einem Splitter meines Herzens bezahlthätten, dann wäre mein Herz nicht mehr ganz gewesen!‹, rief sie. ›Und ich …‹
    ›Sorge dich nicht, meine kleine Königin‹, sagte der silbergraue Hund. ›Niemand bricht einen Splitter aus deinem Herzen. Für die Ozeanreiter ist unsere Flucht ein Unrecht und unser Weg verboten. Aber solange die Juwelierin sie nicht herbeiruft, brauchst du sie nicht zu fürchten. Sie wird sie erst rufen, wenn sie ganz sicher ist, dass sie den richtigen Wanderern folgt. Wenn sie uns eingeholt hat.‹
    Sie liefen den ganzen Tag auf ihren Schlittschuhen weiter. Als es Abend wurde, war die Juwelierin noch näher gekommen. Nicht nahe genug, aber zu nahe.
    ›Kann ich noch einmal durch das Opernglas sehen?‹, fragte das Rosenmädchen, doch der Leuchtturmwärter sagte, er hätte das Opernglas verlegt.
    ›Ich habe auch ohne Opernglas ganz gute Augen‹, knurrte der silbergraue Hund. Er kniff die goldenen Augen zusammen und starrte ein Loch in die hereinbrechende Dunkelheit. ›Ich dachte die ganze Zeit über, ich bilde es mir ein‹, knurrte er. ›Aber jetzt bin ich mir sicher. Fäden. Rote Fäden. Wir tragen alle rote Mäntel. Einer von uns hat rote Fäden im weißen Schnee hinterlassen, um der Juwelierin den Weg zu zeigen. Einer von uns ist ein Verräter.‹«
    Abel verstummte.
    »Und? Wer ist es?«, fragte Micha atemlos.
    Er zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
    »Die Katze kann es nicht sein«, sagte Micha, »die hat überhaupt keinen Mantel, nur ihr Fell. Oder glaubst du, sie hat Fäden ausdem Mantel von jemand anderem gezogen? Sie hat scharfe Krallen … der silbergraue Hund kann es auch nicht sein, der hat noch viel weniger einen Mantel, und überhaupt hat er das Ganze entdeckt …«
    »Der Fragende und der Antwortende sind zu dumm«, sagte Anna. »Und außerdem sind sie erfunden.«
    Abel hob die Arme. »Aber – alles ist erfunden!«
    »Nein«, sagte Anna. »Nein, das ist es nicht. Als Verräter kommen eigentlich nur zwei Leute infrage. Der Leuchtturmwärter – und das Rosenmädchen.«
    Abel stand auf. »Wir werden sehen«, sagte er. »Wir werden sehen, was geschieht und wie es weitergeht. Es wird sicher noch dauern, bis unsere Wäsche fertig ist … Sag mir, was würdest du jetzt tun, wenn wir nicht hier wären?«
    Sie überlegte. »Ich fürchte, lernen. Was würdest du tun, wenn du zu Hause wärst?«
    Er lächelte. »Ich fürchte, lernen.«
    »Du kannst meinen Schreibtisch haben«, sagte Anna. »Ich setze mich mit meinen Büchern aufs Bett, das ist sowieso bequemer. Wir sollten wirklich etwas für dieses Abitur tun. Es schreibt sich nicht von selbst. Nicht ganz.«
    »Hab ich ein Glück, dass ich kein Abitur machen muss«, sagte Micha. »Ich geh mal nach unten und seh nach, was Linda macht.«
    »Linda«, wiederholte Abel, als sie Micha die Treppe hinunterpoltern hörten. »Linda. Als würde sie deine Mutter schon seit Jahren kennen.«
    »Ich glaube«, meinte Anna, »sie verstehen sich ganz gut. Ich glaube … Linda hätte immer gerne noch ein zweites Kind gehabt, noch eines, das sie aufwachsen sieht …«
    Vom Wohnzimmer klangen jetzt die Noten des Klaviers herauf, vereinzelte, nicht ganz zusammenpassende Noten, die jemand anschlug, der Dinge ausprobierte. Irgendwo dazwischen waren Michas und Lindas Stimmen.
    »Ja, das verdammte Abitur«, sagte Anna und sammelte ihre Bücher ein, um sich aufs Bett zu setzen. Einen Moment lang dachte sie, dass sie hundert Dinge lieber täte, als sich jetzt mit diesen Büchern zu beschäftigen, aber als sie nach einer Weile aufsah, dachte sie, dass eigentlich alles genau so war, wie es sein sollte. Abel saß an ihrem Schreibtisch, den Kopf über ein anderes Buch gebeugt, vertieft, und es sah aus, als gehörte er dorthin. Sie waren in eine seltsam surreale Art von Alltag gerutscht, Anna auf dem Bett und er am Schreibtisch, sie lernten fürs Abi wie tausend andere Leute in diesem Land. Sie lächelte und las weiter, strich Dinge an, versuchte, Räume in ihrem Kopf zu schaffen, Schubladen herzustellen, Fakten einzuordnen. Eine ungefährliche und ganz und gar gewöhnliche Art von Beschäftigung, sicher und

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