Maerchenerzaehler
warm, meilenweit entfernt von Rätseln und Fragen und Verdächtigungen.
Das Klavier unten war verstummt, sie hörte Bleche klappern, der Geruch nach frischen Keksen kroch die Treppe hinauf. Linda und Micha waren in der Küche.
Irgendwann stand Anna auf und trat an den Schreibtisch hinter Abel und legte eine Hand auf seinen Rücken. Er sah auf und lächelte.
»Werd ich zum Augenblicke sagen …«, flüsterte Anna.
»… verweile doch, du bist so schön.«
»Ja.«
»Hängst du immer noch bei Faust ? Ich bin bei Herta Müller angekommen …«
»Um Himmels willen«, sagte Anna. »Lehn dich nicht zu weit aus der Atemschaukel, da wird einem leicht schlecht.«
»Ich dachte immer, es handelte sich um ein modernes Musikinstrument«, meinte Abel.
»Du könntest eine einminütige Pause machen und mich küssen.«
»Könnte ich. Aber hinterher muss ich weiterlesen. Das Abitur.«
»Natürlich. Das Abitur.«
Später machte Abel noch eine Pause, eine längere, aber nicht, um Anna zu küssen. Er ging hinaus und half Magnus, die Auffahrt frei zu schippen. Sie stand am Badezimmerfenster, von wo sie die Auffahrt sehen konnte, und es war seltsam, ihnen zuzusehen: Magnus’ breitem Rücken in der Skijacke, Abel in dem abgewetzten grünen Militärparka, der nicht für Schnee gemacht war. Sie schippten gleich schnell, aber nicht eilig. Es war kein Wettbewerb. Seit Langem dachte Anna wieder an Abels rechtes Handgelenk. Es schien geheilt zu sein. Rainer Lierski hatte es also doch nicht gebrochen. Anna sah, dass sie redeten. Sie fragte sich, worüber. Vielleicht über Magnus’ Angebot eines zinslosen Darlehens. Vielleicht über den Schnee.
»Verweile doch«, wiederholte sie flüsternd, »du bist so schön …«
Und sie stellte sich vor, wie es später sein könnte, eine unsinnige Vorstellung, aber sie rutschte einfach in ihren Kopf: Sie sah Abel und Magnus zusammen Schnee schippen, in zwanzig Jahren, in dreißig – Magnus war alt geworden, sein breites Kreuz noch immer stark, doch gebeugt von der Zeit, sein Haar an den Schläfen schon fast weiß. Und Abel war ein anderer Abel, ein erwachsener, einer, der sich seiner selbst vollkommen sicher war und am Esstisch nicht mehr umhersah, als wäre er ein Gefangener.
»Quatsch!«, wisperte sie. »Dreißig Jahre … kein Mensch bleibt mit dem zusammen, den er mit siebzehn trifft … in was für einem Märchen lebst du, Anna Leemann?«
Und doch schien die Vorstellung ihr richtig.
»Sieh dir das an«, sagte Linda und trat hinter sie. »Sie verstehen sich ja doch.«
»Es gibt frische Kekse!«, rief Micha und hielt Anna einen Teller hin. »Und wir müssen dableiben. Nämlich Linda hat gerade gemerkt, dass der Trockner kaputt ist. Völlig kaputt, denk dir! Wir haben die Wäsche schon im Heizungskeller aufgehängt, ich habe auf einem Stuhl gestanden und geholfen, und morgen ist sicher alles trocken, aber heute Nacht dürfen wir hier übernachten! Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht«, sagte Anna vorsichtig und drehte sich nach Linda um, »was Abel dazu sagt. Ist der Trockner wirklich kaputt?«
Linda zuckte die Achseln und nickte. Anna ging hinunter in den Keller und versuchte, den Trockner anzustellen, aber Linda und Micha hatten recht. Die Maschine schwieg, es tat sich absolut nichts. Sie steckte das Kabel ein und wieder aus – ohne Erfolg.
Als sie wieder aus dem Keller kam, klopfte sich Abel eben den Schnee von der Jacke. Micha tanzte um ihn herum, noch immer den Keksteller balancierend, und sang: »Wir bleiben hier und trocknen! Wir trocknen auf der Leine!«
Und Abel hob abwehrend die Arme.
»Bleib mal einen Moment stehen!«, sagte er. »Micha. Wir können nicht bleiben. Wir haben ein Zuhause und es ist nicht hier. Wir kommen morgen wieder und holen die verdammte Wäsche ab.«
» Verdammt darf man gar nicht sagen«, meinte Micha. »Und guckmal raus, es schneit schon wieder und sicher kommt wieder ein Sturm! Bitte, Abel! Bitte!« Sie stellte den Teller auf den Boden und hängte sich an sein Hosenbein. »Bitte, bitte, bitte! Nur heute Nacht! Ich muss doch noch ein bisschen Klavier spielen und die Kekse verzieren und alles!«
»Musst du heute Abend noch weg?«, fragte Anna leise.
Abel legte die Hände vors Gesicht, diesmal länger als sonst, und sie sah, dass er versuchte, zu einer Entscheidung zu gelangen. Sie sah, dass er hinter seinen Handflächen lautlos fluchte.
»Am Ende sage ich doch wieder Ja«, sagte er leise. »Am Ende springe ich über so viele Schatten,
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