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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sagte die Gestalt. »Wie ein mittelmäßiger Detektiv. Es ist nicht gut, wenn man zu viel wissen will.«
    »Ich …«
    Er versuchte zu denken. Wenn er schrie? Wenn er die Waffe wegschlug und aufs Ufer zurannte? Er war nicht schnell, er wusste es. Und er war wie gelähmt. Seine Beine waren auf dem Fluss festgefroren. Er konnte nicht rennen. Er konnte auch nicht schreien. Seine Stimmbänder waren eiskalt.
    »Warum?«, hörte er sich flüstern. »Warum das alles?«
    »Hast du je geliebt?«
    Er nickte. »Ich denke schon …«
    »Nicht so, vielleicht. Wenn man wirklich liebt, darf nichts undniemand dazwischenkommen. Verstehst du? Ich lasse nicht zu, dass ihr etwas passiert. Es geht nicht um mich. Es ist nie um mich gegangen. Dreh dich um.«
    »Nein«, sagte er. »Und weshalb?«
    »Weil ich niemandem in die Augen sehen kann, den ich erschieße.«
    Da war etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen, und zuerst dachte er, er wäre es selbst. Doch es war sein Gegenüber. Und er begriff eines: Er durfte sich nicht umdrehen. Auf gar keinen Fall. Es musste eine Lösung geben. Eine Lösung, wie er heil hier herauskam. Das Seltsamste war, dass er nicht einmal Hass für sein Gegenüber empfand. Er empfand, neben seiner eigenen Angst, nur Mitleid. Und vielleicht war er irgendwie mit schuld an der ganzen Sache, er hätte früher etwas begreifen sollen, früher eingreifen …
    »Dreh dich um.«
    Er drehte sich nicht um. Er machte einen Schritt zurück. Er spürte, wie das Eis unter ihm brach. Es ging ganz schnell. Im einen Moment stand er auf dem Fluss, im nächsten hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Er fühlte die Kälte nicht. Die Welt verschwand.
    Und irgendwo in der Stadt wanderte jemand ziellos durch die Nacht, die Hände tief in den Taschen vergraben, in den Ohren weißes Rauschen. Irgendwo weit entfernt vom Museumshafen und viel später. Irgendwo und irgendwann. Kein Heiliger.
    Und irgendwo, aber wir wissen ja, wo: auf dem Restaurantschiff, dort wartete jemand vergeblich.
    Und irgendwo bellte ein silbergrauer Hund mit goldenen Augenin einem Zwinger, und vielleicht hörte ein Junge mit einer Brille ihn, der das Hoftor öffnete. Vielleicht war er nur spazieren gegangen, schlaflos.
    Und irgendwo bewegten sich zwei Körper auf einem steril abwaschbaren Sofa ineinander wie ein Puzzlespiel und das Licht fiel auf schwarz gefärbtes und auf rotblondes Haar, irgendwo und irgendwann, im Aschenbecher verglomm der Rest eines Joints – wie spät es sein mochte? Sie hatten nicht auf die Uhr gesehen, als sie wiedergekommen waren …
    Und irgendwo, irgendwo ganz in der Nähe, lag eine verschwundene Person in tiefem, erschöpftem Schlaf.
    Mitten in der Nacht erwachte Anna davon, dass sich ein eisiger Körper an sie drängte. Sie erschrak, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich wach war oder ob sie träumte. Der Körper roch nach Winterluft und nach Zigaretten und nach etwas Vertrautem.
    »Abel?«, flüsterte sie. Er antwortete nicht, er war angezogen und er war kalt wie Schnee.
    Sie rollte herum und legte die Arme um ihn, versuchte, ihn zu wärmen, doch es gelang ihr nicht, es war, als könnte er nie, nie wieder warm werden. Die Rollläden schlossen die Nacht aus und kreierten eine neue, dichtere Nacht im Zimmer, eine Art von absoluter Nacht ohne oben und unten, rechts oder links. Sie sah nichts, sie tastete, vergrub ihre Finger in seinem Haar, legte ihre Hände auf eiskalte Wangen. Und dann hörte sie einen seltsamen und Furcht einflößenden Laut. Es war wie das Winseln eines Hundes, ganz leise, es dauerte nur Sekunden, aber es war ein so verzweifelter Laut, ein so unendlich hilfloser Laut, dass sie erschauerte.
    »Abel«, sagte sie noch einmal, sie wollte etwas fragen, doch siewusste nicht, was, sie hielt ihn nur fest, und so schlief sie irgendwann wieder ein.
    Als sie am Morgen erwachte, lag sie alleine im Bett. Sie ging barfuß hinüber zum Gästezimmer, wo Abel und Micha noch immer zusammen im selben Gästebett lagen. Sie musste die Sache nachts geträumt haben. Er war gar nicht fort gewesen.

15
    Tauwetter
    »Es taut«, sagte Magnus beim Frühstück und zeigte zum Fenster, wo Tropfen vom Dach fielen. »Meine Rotkehlchen kommen wieder.«
    Die Sonne schien auf den Schnee. Es würde dauern, bis er völlig wegtaute, aber es war ein Anfang. Niemand sagte viel beim Frühstück. Es war eine gute Art von Samstagmorgen-Verschlafenheit, sagte Anna sich, es bedeutete nichts. Sie ging mit Abel hinunter in den Keller, um die

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