Mutter des Monats
Erster Schultag
8.45 Uhr: Vor Schulbeginn
Da stand Bea, drüben im Schatten der großen Buche. Rachel, die mal wieder an der falschen Stelle gewartet hatte, wollte sich zu den dort versammelten Müttern gesellen, doch etwas hielt sie zurück. Oha! Sogar aus dieser Entfernung konnte sie die Zeichen erkennen: aufrechte Haltung, wachsamer Blick, ein Lächeln auf den Lippen. Bea stand kurz vor einer Wichtigen Bekanntmachung . Auf dem Schulhof herrschte ein solcher Lärm – zu Beginn eines neuen Schuljahrs ging es immer besonders hektisch zu –, dass jeder normale Mensch die Stimme heben, ja brüllen müsste, um sich Gehör zu verschaffen. Nicht so Bea. Auf dem Schulgelände wurde sie nie laut, besonders dann nicht, wenn die Schulglocke bereits geläutet hatte. Dazu bestand auch gar kein Anlass. Sie wählte den rechten Moment, schob sich die Haare rechts und links aus dem Gesicht, als teilte sie einen Theatervorhang, räusperte sich und legte los. »Willkommen zurück, liebe Eltern. Ich hoffe, alle hatten einen fantastischen Sommer.« Und sofort wurde aus der chaotischen Geräuschkulisse ein friedliches, gleichmäßiges Summen.
Die versprengten Grüppchen von Müttern, die sich nach den Sommerferien viel zu erzählen hatten, verstummten und wandten sich Bea zu. Die Neuen, die an ihrem ersten Tag allein herumstanden, vergaßen ihre Anspannung und richteten den Blick auf die Sprecherin. »Also. Alle mal herhören, bitte.« Bea rasselte mit ihrem riesigen Schlüsselbund und lächelte wieder. »Ich wurde gebeten …« Pause. »… der neue Rektor hat mich gebeten, unter den Eltern nach Freiwilligen zu suchen, um eine Arbeitsgruppe zusammenzustellen.« Die Worte wogten durch die immer größer werdende Menge. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen, denn Bea war bei Weitem die Größte.
Rachel lehnte sich wieder an die sonnenverwöhnte Wand des Unterrichtspavillons, beobachtete das Geschehen und lächelte. Bea in Aktion, dachte sie. Neues Schuljahr, neues Projekt. Wozu würde Bea sie wohl diesmal verdonnern? Sie sah, wie die ganz Eifrigen sich in Scharen unter dem Baum versammelten. Bei so viel demonstrativem Gemeinschaftssinn fühlte sie sich gezwungen, stehen zu bleiben und Abstand zu halten. Da brauchte sie nicht mitzumischen. Bea würde ihr später ohnehin alles erzählen. Sie würde einfach hier warten. In ein paar Minuten würden sie dann zusammen durchs Schultor gehen. Wie immer.
Der Schulhof brauchte einen neuen Belag, der Asphalt war von der außergewöhnlichen Hitze an diesem Morgen schon ganz klebrig.
„Rachel musste ihre Füße immer wieder vom Boden lösen, damit die Sohlen nicht festpappten. Nach einem feuchten, wolkenverhangenen August war der Sommer pünktlich zu Beginn des neuen Trimesters noch mal mit Pauken und Trompeten zurückgekehrt. Witzig, dachte sie, wie die Jahreszeiten anscheinend auch Ferien machten. In den vergangenen Jahren war es zu Weihnachten immer warm und feucht gewesen. Erst zu Ostern hatte sich der Winter endlich eingefunden, sie alle unter Schnee begraben und die Schule lahmgelegt. Und nun, nach einem Monat Fleecepullover, Regenjacken und Simpsons bis zum Abwinken, standen Eltern und Kinder pünktlich am ersten Tag nach den Sommerferien vor der Schule und schwitzten. Womöglich erwachten ja nicht nur Schulen nach dem akademischen Kalender zum Leben, sondern auch die Natur.
Rachel versuchte, Beas kleiner Rede aus der Entfernung zu folgen, aber sie hörte nur Satzfetzen, irgendwas über den fantastischen neuen Rektor und die schmerzhaften Einschnitte der letzten Zeit. Und, ganz überraschend: ein Spendenaufruf. War ja klar. Noch mehr Spenden. Sie verlagerte das Gewicht aufs andere Bein und träumte weiter vor sich hin.
Statt zuzuhören beobachtete sie einen Traktor, der auf der Weide hinter dem Spielfeld seine Bahnen zog, und das Flugzeug, das am königsblauen Himmel eine perfekte Kurve beschrieb. Puh, war das eine Hitze. Warum hatte sie eigentlich Jeans an? Von dem Wetter wurde sie auch nicht munterer. Obwohl das neue Schuljahr bevorstand, verspürte Rachel keinerlei Tatendrang. Bei ihr ertönten weder Pauken noch Trompeten. Heute früh hatte sie sich wie Sisyphus den Hügel hinaufgequält. Doch so, wie die Ferien verlaufen waren, kam es Rachel gerade recht, dass der Alltag sie wiederhatte.
Diese Schule hatte sie schon immer gemocht. Wie paradiesisch es hier war, konnte sie sogar an einem Tag wie diesem erkennen,
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