Maerchenerzaehler
Brust, eine königliche Träne, und da begann er wieder zu atmen.
›Aber wir können nicht bleiben‹, sagte das Rosenmädchen. ›Wir müssen weg hier! Rasch!‹
Kurz darauf glitten sie auf ihren Schlittschuhen so schnell übers Eis wie nie zuvor, um Eislöcher und Spalten herum … hinter ihnen aber glitt die Juwelierin auf ihren eigenen Schlittschuhen durch die zerklüftete weiße Wüste. Sie hatte die ganze Nacht an diesen Schlittschuhen geschmiedet, sie waren aus reinem Gold, und an den Spitzen hatte sie etwas Platz gelassen, um später die Stücke eines Diamanten dort einzufügen. Die Juwelierin blieb nicht stehen, als sie am Körper des Leuchtturmwärters vorüberkam.
Nur die graue Raubmöwe mit den goldenen Augen schwebte noch einen Moment über ihm, ehe sie ihre Flügel ausbreitete und der kleinen Gruppe von Flüchtlingen nachsegelte.
In der Ferne schimmerte ein grüner Streifen. Das Festland. Es war nah. Aber noch war es nicht nah genug.«
Abel verstummte.
»Der Leuchtturmwärter war also der Verräter«, sagte Anna leise.
Abel nickte. »Er ist mir nachgeschlichen. Er hat gedacht, ich merke es nicht. Es geht ihn nichts an, was ich in den Nächten tue … aber ich wollte nicht, dass ihm etwas zustößt. Anna, ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, ins Eis einzubrechen. Ich … ich wünschte, er wäre mir gestern Nacht nachgeschlichen. Wenn er dort gewesen wäre, wo ich war, hätte er nicht ins Eis einbrechen können … und wenn ich dort gewesen wäre, wo er war, hätte ich ihn herausziehen können …«
»Es ist in Ordnung«, sagte sie und legte einen Arm um ihn. »Es ist in Ordnung.«
»Ich frage mich«, sagte Micha, »in was sich dieser Möwen-Wolfs-Seelöwen-Hund am Ende verwandelt. Vielleicht in einen Prinzen, der mich heiratet?«
»Ganz bestimmt«, flüsterte jemand kaum hörbar, und Anna zuckte zusammen. Sie stieß Abel an und zeigte auf das blasse Gesicht in den Kissen. Der Knaake hatte die Augen noch immer geschlossen. Aber jetzt bewegten sich seine Lippen.
»Ein Prinz«, wiederholte er.
Anna sprang auf und beugte sich ganz nahe über ihn, legte eine Hand auf seine Stirn.
»Herr Knaake«, flüsterte sie. Warum flüsterte sie? »Ich bin es, Anna. Können Sie mich hören? Was ist bloß passiert? Was haben Sie im Museumshafen auf dem Eis getan? Warum sind Sie da allein hinausgegangen?«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich war nicht allein«, antwortete er, kaum hörbar. »Da war noch jemand. Jemand mit … einer Waffe. Ich habe einen Schritt zurück gemacht, in die Fahrrinne … um der Kugel auszuweichen.«
Er öffnete die Augen, vorsichtig, als wögen seine Lider Tonnen, und sah Anna an – dann Micha und dann Abel. Und dann schloss er die Augen wieder.
»Wer?«, fragte Anna. »Wer war noch auf dem Eis?«
»Ich … weiß es nicht mehr«, antwortete der Knaake. »Ich weiß es wirklich nicht mehr …«
Er tastete nach Annas Hand. Sie fühlte seine kalten Finger, sie spürte, dass er ihr etwas mitteilen wollte, doch sie wusste nicht, was. Sie beugte sich noch tiefer über ihn.
»Anna, Anna«, flüsterte er, »pass auf dich auf.«
Da war er wieder, dachte sie: jener Satz, den so viele Leute in letzter Zeit zu ihr sagten.
»Erinnern Sie sich wirklich nicht, wer dort war?«, fragte sie. »Bitte, Sie müssen es versuchen …«
Doch der Knaake antwortete nicht mehr. Sie wusste nicht, ob er schlief, ob er abermals das Bewusstsein verloren hatte oder ob er schlicht und einfach nicht antworten wollte. Die grüne Herzschlaglinie lief ungerührt über den dunklen Monitor und ließ sie allein mit ihrer Angst. Sie drehte sich zu Abel um, der ebenfalls aufgestanden war. Als er sie in die Arme nahm, spürte sie seine Wange an ihrer, und diese Wange war nass. Nass vom Tauwasser.
»Er schafft es«, flüsterte er, seine Stimme weich vor Erleichterung. »Er stirbt nicht. Wer redet, stirbt nicht. Er schafft es. Anna, ich … kann es sein, dass er gestern Nacht dachte, er folgt mir, und jemand anderem gefolgt ist? Jemandem, der darüber noch etwas ärgerlicher war als ich?«
Micha drängte sich in ihre Umarmung und sah zu ihnen auf.
»Er schafft es, und wir schaffen es auch, oder?«, fragte sie. »Das Festland zu erreichen?«
Anna besuchte den Knaake am Sonntagvormittag noch einmal, ohne Abel. Er sprach nicht mehr mit ihr. Die Ärztin mit der Blaffstimme sah sie auf eine seltsame Art an, als sie erzählte, er hätte gesprochen. Als glaubte sie ihr nicht.
»Manchmal, wenn man
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