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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihr durchdrangen, dachte Anna mit erstaunlicher Klarheit: Ich habe Gitta verloren. Gitta war einmal meine Freundin, egal, wie verschieden wir sind. Aber ich habe sie verloren.
    Erst danach hörte sie, was Bertil überhaupt sagte. Da war etwas im Hintergrund, redende Leute, zerhackte Musik, etwas wie die Geräuschkulisse einer Disco oder Kneipe. Die Stimmen, die Anna hörte, rauschten. Eine schlechte Aufnahme. Bertil schien etwas zu wiederholen, was er schon einmal gefragt hatte.
    »Ich habe gesagt: Würdest du auch mit mir mitgehen?«
    »Wohin überhaupt?«, fragte jemand anders. Und dieser Jemand war Abel.
    Anna setzte sich abrupt auf.
    »Du weißt genau, was ich meine«, sagte Bertil, »und es hat nichts damit zu tun, wohin. Zu einem von uns beiden. Oder bist du hier schon verabredet?«
    »Bertil«, sagte Abel und lachte eine seltsame Art von Lachen, »ich verstehe nicht, was das soll. Du hasst mich.«
    »Nein«, sagte Bertil. Es klang erstaunlich ehrlich, aber war es das? Wo befanden sich die beiden? Wann? Und worum ging es? »Hass und Liebe liegen nah beieinander«, sagte Bertil, und das war der einzige Satz, der zu einem Theaterstück passte.
    »Quatsch«, sagte Abel, »erzähl mir nichts.«
    »Ich hatte gedacht, es wäre eine Frage des Preises«, sagte Bertil, hektisch und leise jetzt. »Was nimmst du? Ich habe Geld, weißt du. Genug. Du bist die einzige Chance für mich, etwas über mich herauszufinden. Ob ich … ich dachte bisher … du verstehst.«
    »Ja«, sagte Abel. »Ich verstehe. Aber ich werde das nicht tun.«
    »Aber du gehst doch mit Leuten mit. Oder nicht?«
    Einen Moment lang hörte man nur das Rauschen der Aufnahme und die Geräusche im Hintergrund.
    »Es ist«, sagte Abel schließlich, »eine Frage des Preises.«
    In diesem Moment sprang Gitta auf und rannte hinaus. Anna saßvöllig steif da, sie war versteinert, sie konnte sich nicht rühren. Sie begriff nichts und sie begriff alles.
    Gitta wusste, dass sie früher hätte aufspringen müssen. Die schiere Überraschung hatte sie gelähmt. Gelähmt wie Anna. Und wie Abel, der stumm hinten auf seinem Platz sitzen geblieben war, festgefroren. Gitta war nie so schnell die Schulflure entlanggerannt, aber sie wusste, dass es nicht schnell genug war. Wo war die verdammte Sekretärin? Hatte sie Bertil neben dem Mikrofon für die Durchsagen alleine gelassen? Es war die einzige Möglichkeit. Bertil war verrückt, verrückt, er war verrückt. Gitta zwang sich, noch schneller zu rennen. Warum tat niemand anders etwas? Warum rannte sie allein? Warum stoppte niemand diese Durchsage? Sie hallte aus allen Lautsprechern der Schule, und spätestens jetzt war jedem klar, dass diese Durchsage nichts mit einem Schultheaterstück zu tun hatte. Sie stolperte, fing sich, raste eine Treppe hinauf, einen weiteren Flur entlang …
    »Bertil«, sagte Abels Stimme aus den Lautsprechern, verzerrt von der Aufnahme. Handy, dachte Gitta. Er hat es mit dem Handy aufgenommen. Unauffällig. Er ist nicht dumm.
    »Bertil, ich weiß nicht, was du dir vorstellst. Dies ist nichts, was ich dauernd tue. Ich bin kein … wie sagt man das? Kein Professional. Für so was musst du nach Berlin gehen, oder was weiß ich, nach Rostock. Das, was ich tue, ist etwas, das sich … ergibt. Es sind gewöhnlich ältere Männer.«
    »Was bist du?«, fragte Bertil. »Bi?«
    »Das geht dich nichts an«, sagte Abel. »Aber: Nein. Hundert Prozent hetero.«
    »Du gehst nur mit Männern mit.«
    »Es ist ein Markt. Und es ist eine Frage des Preises. Es ist gar nicht so schwer, die Zähne zusammenzubeißen. Auch wenn du das nicht verstehst.« Abels Stimme war bitter wie Galle.
    »Schön«, sagte Bertil. »Ich bin genauso hundert Prozent hetero wie du. Das war eben … nicht ganz ehrlich, verzeih. Ich wollte es nur wissen. Ich meine, ich wusste es, ich habe dich beobachtet, aber ich wollte es von dir hören.«
    »Bist du jetzt zufrieden, ja?«, fragte Abel. »Beinahe, weißt du, beinahe hättest du mir eben leidgetan. Verstehen wir uns richtig: Du wirst niemandem etwas von diesem Gespräch sagen.«
    »Natürlich nicht«, antwortete Bertil. »Ich bin nicht lebensmüde.«
    Aber offenbar war er das, dachte Gitta. Obwohl er sein Versprechen gehalten hatte. Er hatte niemandem etwas gesagt. Er hatte nur die Aufnahme abgespielt, von der Abel nichts gewusst hatte. Als Gitta die Tür zum Sekretariat aufriss, stand er alleine am Schreibtisch der Schulsekretärin, das Handy in der Hand, die lange Gestalt gebeugt,

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