Märchenerzähler
und sprach einen letzten Satz ins Mikro:
»Ich dachte«, sagte er, »irgendjemand muss es Anna doch sagen.«
Dann traf ihn Gittas Faust im Gesicht.
Aber sie wusste, dass es zu spät war. Viel zu spät.
Anna drehte sich um. Sie war die Letzte, die sich umdrehte. Alle anderen hatten es schon während Bertils Durchsage getan, sie sahen Abel an, alle. Die Mathelehrerin stand vorne und sah ebenfalls Abel an, sie wirkte völlig hilflos, als wüsste sie, dass sie etwas sagen musste. Was hätte sie sagen sollen?
Abel stand auf und ging. Ohne ein Wort. Er ging durch den Mittelgang zwischen den Tischen nach vorn, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, er schloss die Tür leise hinter sich, und irgendwo schloss er eine zweite Tür, die Schultür, womöglich für immer. Er ging über den Hof, sie sahen ihn fortgehen, fort aus einer Welt, in die er nie gehört hatte. Sie sahen ihn die Mütze über die Ohren ziehen und auf sein Rad steigen. Er vergaß die Walkmanstöpsel. Vielleicht, dachte Anna, brauchte er sie nicht mehr, vielleicht war das weiße Rauschen in seinem Kopf angekommen.
Sie warf ihre Sachen in den Rucksack und stand auf. Sie spürte, dass jetzt alle anderen sie ansahen. Manche von ihnen flüsterten. Frauke warf ihr einen Blick zu, in dem so viel Mitleid stand, dass sie hätte kotzen können. Sie legte einen Moment die Hände vors Gesicht und atmete tief durch. Dann ging sie ebenfalls, ging den gleichen Weg, den Abel gegangen war, aber sie sah nicht zu Boden. Sie bemühte sich, die anderen anzusehen, auch die Lehrerin, alle. Manche sahen jetzt weg. Sie ging sehr aufrecht. Sie ging sehr aufrecht die Flure entlang und sehr aufrecht hinaus, sie schob ihr Rad sehr aufrecht durch den Schneematsch vom Schulhof. Sie fuhr hinaus nach Wieck, bis über die Brücke, bis zur Flussmündung. Neben dem Café stieg sie ab und ging sehr aufrecht hinaus auf die Mole.
Sie sah das Eis tauen. Sie sah, dass die Blesshühner am Rand der Fahrtrinne wieder schwammen, und die schmutzig-weißen Schwäne. Und plötzlich hielten ihre Beine sie nicht mehr. Sie musste sich an dem weiß gestrichenen Geländer festhalten, um nicht zu fallen, sie krümmte sich über diesem Geländer zusammen, sie wartete auf die Tränen, doch es waren keine da. Sie weinte ein Weinen ohne Tränen.
Sie verstand jetzt. Sie verstand vieles.
Sie erinnerte sich, wie Abel ihr die Wohnungstür geöffnet hatte, im T-Shirt, wie er sie nicht hereingelassen hatte. Sie erinnerte sich an Worte. Kann ich nicht mitgehen? Nein, Anna, dorthin, wo ich jetzt hingehe, kannst du nicht mitkommen. Ich muss noch weg …
Das, was ich tue, ist etwas, das sich ergibt. Wie oft hatte es sich ergeben, seit sie ihn kannte? In welchen Nächten hatte er vor Kneipen gestanden und das Märchenfell weißer Katzen verkauft und in welchen sich selbst? An welchen Vormittagen hatte er in Deutsch geschlafen, den Kopf auf den Armen, weil er nachts mit jemandem mitgegangen war, der den richtigen Preis bezahlt hatte? Sie hätte nie gedacht, dass diese Dinge hier überhaupt existierten, hier, in dieser winzigen Stadt. Chicago, hörte sie Magnus sagen.
»Von allen Arten, Geld zu verdienen«, flüsterte sie, »Abel, warum musste es gerade diese sein? Weil es sich irgendwann so ergeben hat? Wann? Wann hast du damit angefangen, die Zähne zusammenzubeißen und …? Ist es ein Symbol? Dafür, wie weit du für die kleine Königin gehst? Wie weit du über das Eis gehst? Irgendwann … irgendwann hält es nicht mehr, weißt du …«
Sie dachte zurück an die Dunkelheit in der Bootshalle, die zersplitterte Taschenlampe. Sie begann zu begreifen, was in jener Nacht geschehen war. Es war eine Art Rache gewesen, eine späte Rache für all das Zähnezusammenbeißen. Eine Rache an der falschen Person. Vielleicht war sie tatsächlich die erste Frau für ihn gewesen. Ein erstaunlicher Gedanke.
Wenn sie jetzt die Augen schloss, sah sie Bilder, die sie nicht sehen wollte, Dokumentationen billiger Pornografie. Es sind gewöhnlich ältere Männer. Gewöhnlich. Konnte man sich an alles gewöhnen? Wurde alles irgendwann zur Routine? Sie öffnete die Augen.
Gitta, dachte sie, Gitta hatte es gewusst. Gitta hatte den Mundgehalten. Aber jetzt, jetzt wusste es also die ganze Schule. Und er war auf eine so endgültige Weise gegangen.
Sie musste ihn finden.
Bertil landete auf dem Boden zwischen dem großen Schreibtisch und der Wand, da lag er, eingekeilt. Gitta stand einen Moment über ihm und sah auf ihn hinab. Und
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