Tod in der Marsch
PROLOG
Vierundzwanzig helle Kinderstimmen schwirrten durch
das Klassenzimmer, überboten einander in der Lautstärke und ließen sich auch
durch die Schulglocke nicht stören.
Eine junge Frau mit dunkler Ponyfrisur betrat den Raum
und schloss hinter sich die Tür.
»Guten Morgen«, rief sie laut und vernehmlich in das
Durcheinander der Klasse. Aber niemand schien sie wahrzunehmen.
Sie legte ihre Mappe auf dem Lehrerpult ab, klopfte
mit einem Kugelschreiber auf das Holz und versuchte noch einmal, das Getöse zu
übertönen.
»Guten Morgen!«
Erst als sie einige der Kinder mit Namen zur Ordnung
rief, kehrte Ruhe ein.
Eine Antwort auf ihren Gruß hatte sie nicht erwartet.
Während sie ihre Unterlagen der Mappe entnahm, sprach sie zur Klasse: »Wir
kontrollieren zuerst die Hausarbeiten in Rechnen.«
»Frau Pohl! Ich habe mein Heft zu Hause vergessen«,
rief ein kleiner Rothaariger aus der vorletzten Bank der Lehrerin zu.
»Ich auch«, stimmte eine Pippi-Langstrumpf-Kopie aus
der zweiten Reihe ein.
Die Lehrerin sah auf.
Lisa ist wieder da, registrierte sie für einen kurzen
Moment, um dann zu bemerken, dass »Pippi Langstrumpf« nur den Platz der kleinen
Lisa eingenommen hatte.
»Wieso sitzt du nicht auf deinem Platz, Gesche?«
»Lisa ist immer noch nicht da«, kam es aus dem
Zahnlückenmund zurück. »Deshalb sitze ich hier.«
Gesche schien einen unabänderlichen Beschluss gefasst
zu haben.
Frau Pohl sah über die Köpfe der Kinder hinweg.
»Hat irgendjemand etwas von Lisa gehört? Oder von
ihrer Mutter?«
Viele kleine Köpfe wurden geschüttelt. Niemand hatte
Lisa in den letzten Tagen gesehen.
Seltsam, dachte die Lehrerin. Lisa war bisher immer
pünktlich und regelmäßig zum Unterricht erschienen. Und wenn sie wirklich
einmal krank war, so hatte sich die Mutter umgehend im Schulsekretariat
gemeldet und Bescheid gesagt.
Jetzt fehlte das kleine Mädchen schon seit ein paar
Tagen.
Gestern, auf dem Heimweg, hatte die Lehrerin die
Wohnung des Kindes aufgesucht, um nach dem Verbleib der Kleinen zu fragen. Aber
dort hatte niemand geöffnet. Nur eine Nachbarin wusste zu berichten, dass
Mutter und Tochter seit einiger Zeit nicht mehr gesehen worden waren.
Man hört so viel von Kindesentführung, schoss es Frau
Pohl durch den Kopf. Doch sie beruhigte sich gleich selbst wieder: Quatsch!
Nicht bei uns. In Husum gibt es so etwas nicht.
Ob ich nach dem Unterricht einmal die Polizei um Rat
frage? überlegte sie, bevor sie mit dem Abfragen der Hausarbeiten begann.
EINS
»He, Sie da!« Der
Uniformierte zog den Kopf noch ein wenig mehr in den Kragen seiner Jacke. »Da
können Sie nicht parken, das ist reserviert für Dienstfahrzeuge.« Er blieb
unter dem schützenden Vordach des Hauseingangs stehen und beobachtete
Christoph, der seinen schwarzen Volvo-Kombi in der Parklücke hinter dem
Dienstgebäude der Polizeiinspektion abgestellt hatte.
Es war erst früher
Nachmittag, und der Westwind von der nahen See trieb den Regen schräg vor sich
her. Der feine Nieselregen griff horizontal an, er schien auf den Wellen des
Windes nahezu waagerecht zu reiten und traf direkt von vorn auf Gesicht und
Körper. Die in bizarren Gebilden landeinwärts jagenden Wolken schluckten einen
erheblichen Teil des Lichts, sodass es für die Tageszeit viel zu dunkel war und
alles in ein trübes Grau getaucht wurde. Hinter den Fenstern der umliegenden
Gebäude war überall das Licht eingeschaltet.
Christoph blickte
kurz in die Richtung des Uniformierten, beeilte sich dann, sein geparktes
Fahrzeug abzuschließen, und kam in schnellen Sätzen auf den Mann zu.
»Dieser Parkplatz
ist nur für Dienstfahrzeuge reserviert.« Der Streifenpolizist stellte sich dem
Neuankömmling in den Weg, ohne dabei aber das schützende Vordach zu verlassen.
»Das ist quasi ein
Dienstfahrzeug«, antwortete Christoph. »Ich möchte zum Herrn Grothe. Wo
erreiche ich den?«
Der Polizist trat
einen Schritt zu Seite. »Das Vorzimmer vom Chef ist in der zweiten Etage«, gab
er zur Antwort.
Christoph trat zügig
in das Dienstgebäude und hörte hinter sich den schwachen Protest des Beamten: »Trotzdem dürfen Sie da nicht parken …«
Die Polizeistation
befand sich in jenem beklagenswerten Zustand, der jedem Gebäude, in dem eine
Behörde oder öffentliche Einrichtung residiert, eigen ist. Die in düsteren
Ölfarben gehaltenen Wände hatten schon seit langem einen neuen Anstrich nötig,
und der gesamte Bau
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