Märchenerzähler
in der Hand hielt. Sie hörte den Hahn einrasten.
»Anna«, sagte er. Und er hob die Waffe. Erst in diesem Moment begriff sie seinen Ausweg, und sie begriff, warum er sie gefragt hatte, was aus Micha würde. Er hatte nicht so gehen wollen wie Michelle, nicht ohne sich um alles zu kümmern. Er steckte den Lauf der Waffe in den Mund. Er zögerte keine Sekunde. Sie hörte den Schuss nicht, die Welt wurde seltsam still, und sie sank in eine kalte Schwärze, schwarz wie der Ozean tief, tief unter dem Eis.
Es dauerte nur Sekunden, vielleicht nicht einmal das, sie öffnete die Augen, und oben auf dem Treppenabsatz stand niemand mehr. Sie sah, dass Linda einen Treppenabsatz weiter unten die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Sie sah, dass Bertil die Treppe heraufkommen wollte, und sie sah, wie Magnus ihn mit eisernem Griff festhielt. Keiner der Polizisten bewegte sich. Sie dachte, dass sie hätte rennen müssen. Sie rannte nicht.
Es war Micha, die rannte.
Sie machte sich los und rannte die Treppe hinauf und Anna stieg sehr langsam die Stufen hinter ihr hoch. Sie sah ihn dort liegen, sie sah das Blut, in dem er lag, so unbegreiflich hellrot: große herabgefallene, zerborstene Blutstropfen gleich Mohnblumen. Ein Meer aus Blut, ein rotes, unendliches Meer, purpurne Wogen, karminrote Gischtkämme, spritzende Farbe … Micha kniete neben seinen Beinen und hatte die Arme und den Kopf auf seine Knie gebettet, wo kein Blut war. Und sie sang, sie sang ganz leise.
»Heile, heile Segen, drei Tage Regen,
drei Tage Sonnenschein, und alles wird vergessen sein.
Heile, heile Segen …«
Und Anna stellte sich die unsinnige Frage, ob die Worte mit dem Blut aus Abels Kopf herausliefen, all die Worte, die er zu Geschichten hatte verweben wollen, später, später, immer später. Worte, die in einem Sommer am Meer hätten geschrieben werden können, in Ludwigsburg, in einer Nische zwischen dem Strandgras oder in einer Studentenwohnung in einer anderen Stadt oder auf einer Weltreise. Musste sie die Worte nicht irgendwie auffangen, irgendwie retten? All die Worte … die Worte des Märchenerzählers. Sie stand ganz still dort neben Micha, und es brach ihr das Herz, wie Micha sang. Doch der Ort in ihr, an dem die Tränen entspringen sollten, war rau und trocken. Nein, sie fand keine Tränen in sich für den Märchenerzähler.
Der Märchenerzähler existierte nicht mehr.
Sie begruben ihn eine Woche nach dem dreizehnten März. Nach seinem achtzehnten Geburtstag. Anna legte einen Strauß Buschwindröschen auf das Grab, einen Strauß Frühling. Linda hielt die ganze Zeit über Michas Hand und Micha hielt die Hand von Frau Margarete in ihrem blau-weiß geblümten Kleid. Anna hielt niemandes Hand. Sie ging stumm neben Magnus her, ohne ihn anzusehen.
Michas Onkel war es herzlich egal, wo Micha wohnte. Er unterschrieb alle Papiere, die sie brauchten, mit einem irgendwie resignierten Schulterzucken. Sie würde also adoptiert werden, aus Micha Tannatek würde Micha Leemann, sie hatte das Festland erreicht, so wie Abel es gewollt hatte. Sie würde nie erleben, was er erlebt hatte.
Noch immer suchte Anna die Tränen in sich.
Über dem Kamin hing jetzt ein Bild von Abel, das einzige gute Foto, das Micha gefunden hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass sie es dort hinhängten, damit Abel sehen konnte, was sie so tat. Damit er bei ihnen blieb. Und jedes Mal, wenn Anna an dem Bild vorüberging, dachte sie, sie würde die Tränen finden. Doch sie kamen nie. Sie schien all ihre Tränen verbraucht zu haben, als Abel gelebt hatte, jetzt, nachdem er tot war, waren keine mehr übrig.
Sie hatten lange miteinander geredet, länger als je zuvor, Magnus und Linda und sie. Alle wussten jetzt alles. Oder wussten alle nichts? Niemand wusste irgendetwas. Niemand wusste alles.
Anna spielte immer noch Querflöte, aber sie übte nicht die Stücke, die sie hätte üben müssen. Sie spielte die einfachen Melodien von Cohen. Sie wusste noch immer nicht, ob sie den Knaake jemals fragen konnte. Ob er wieder aufwachen würde. Und ob sie ihn, in dem Fall, dass er aufwachte, fragen wollte . Das Abitur war unwichtig geworden. Sie würde später entscheiden, ob sie es machte und wann. Linda und Magnus drängten sie nicht. Vielleicht, dachte Anna, würde sie gar nicht studieren. Vielleicht würde sie etwas ganz anderes tun, sie musste nur herausfinden, was. Sie würde mit Gitta darüber reden, wenn sie so weit war. Gitta war immer noch da. Sie hatte gedacht, sie hätte
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