Märchenerzähler
kam, das Buch mit dem Hundin der Hand – sie sah Abel aus der Wohnungstür stürzen, er drehte sich nicht nach Micha um – auf der Treppe waren Polizisten, sie hörte ihre raschen Schritte, vielleicht rief jemand etwas, rief, dass sie stehen bleiben sollte oder Abel stehen bleiben sollte.
Sie stand vor der Wohnungstür, mit einem Arm Micha an sich gedrückt, und Abel rannte nicht nach unten, er rannte die Treppen nach oben. Nach dem vierten Stock kam nichts mehr, die Treppe endete blind an der Tür zu einem Dachboden, den niemand benutzte, es gab einen winzigen Absatz dort, und auf diesem Absatz blieb Abel stehen.
Anna registrierte, mehr aus dem Augenwinkel, hinter den Polizisten auf der Treppe ihre Eltern. Und Bertil. Sie sah nicht zu ihnen hinunter, sie sah hinauf zu Abel. Die Polizisten blieben neben Anna und Micha stehen und sahen ebenfalls hinauf.
»Abel Tannatek?«, rief einer von ihnen.
»Ja«, sagte Abel ruhig. »Ja, das bin ich.«
»Kommen Sie da runter«, sagte der Polizist. »Wir sind hier, um Sie festzunehmen wegen des Mordes an drei Menschen und des versuchten Mordes an einem vierten. Alles, was Sie von jetzt an sagen …«
»Mein Gott«, sagte Abel mit einem halben Lachen, »das sagen Sie wirklich so?«
Dann sah er Micha an. Und dann sah er Anna an. Sie bemerkte erst jetzt, dass er die Pistole in der Hand hielt. Sie hörte den Hahn einrasten.
»Anna«, sagte er. Und er hob die Waffe und zielte. Er zielte genau.
Sie war zu erstaunt, um zu reagieren.
Oder vielleicht war sie überhaupt nicht erstaunt.
Sie hörte den Schuss nicht, die Welt wurde seltsam still. So sah sie den Märchenerzähler zum letzten Mal: in einer vollkommen stillen Welt, in einem Treppenhaus. Er traf sein Ziel.
Und alles wurde schwarz um sie, schwarz wie der Ozean tief, tief unter dem Eis.
Sie wusste, als sie in die Schwärze fiel, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Sie hatte ihn bis zum Schluss geliebt.
18
Der Märchenerzähler
»Sie standen also an der Kante des Eises, weißt du, und sahen hinüber zum Festland. Es war so nah und doch so unerreichbar weit entfernt! Und hinter ihnen kam die Juwelierin näher und näher, sie hörten ihre goldenen Schlittschuhe jetzt über das Eis kratzen.
›Dann werde ich ertrinken‹, sagte die kleine Königin. Sie sprang kopfüber ins kalte Wasser, und die blinde weiße Katze, an deren völliger Blindheit inzwischen einige Leute zweifelten, schüttelte den Kopf.
›Tz-tz-tz‹, machte sie, rollte sich auf dem Eis zusammen und schlief ein.
Der Fragende und der Antwortende schlugen sich gegenseitig die Hände vors Gesicht, um nicht mitansehen zu müssen, wie die kleine Königin ertrank.
Nur das Rosenmädchen tat nichts dergleichen. Das Rosenmädchen sprang der kleinen Königin nach, ohne zu überlegen.
Sie bekam im reißenden Wasser ihre Hand zu fassen, eine kleine, hilflose Königshand, und sie hielten einander sehr fest. Aber sie konnten nicht gegen die Strömung anschwimmen und das Tauwasser war eisig. Da spürten sie, dass etwas sie zog – etwas zog sie gegen die Strömung. Das Rosenmädchen kam hoch und sah den Kopf des Seelöwen neben sich. Er hatte die Zähne inden Ärmel der kleinen Königin geschlagen und schwamm mit aller Macht gegen die Strömung an, und auf einmal kamen sie voran, sie bewegten sich in Richtung des anderen Ufers. Das Rosenmädchen sah, wie der Seelöwe kämpfte, er brauchte seine ganze Kraft, um sie und die kleine Königin zu ziehen, er war ein starker Schwimmer, doch die Strömung war stärker. Sie versuchte, ihm zu helfen, versuchte, mitzuschwimmen, aber er schüttelte den Kopf.
›Halt still‹, sagten seine goldenen Augen. ›Es ist leichter, wenn du stillhältst. Du kannst mir nicht helfen.‹
Da hielt sie still, und auch die kleine Königin hielt ganz still und auf dem Eis sahen sie die Juwelierin stehen. Sie hob die Hand und machte eine Bewegung, als riefe sie jemanden herbei. Die kleine Königin und das Rosenmädchen wussten beide, wen sie rief: die Ozeanreiter auf ihren tanggrünen und schneeweißen Pferden, die kommen würden, um die Ordnung herzustellen, von der sie glaubten, sie wäre die richtige.
Die Strömung zog und zerrte an ihnen, riss und biss und geiferte, aber am Ende erreichten sie das Ufer doch. Der Seelöwe kroch mit letzter Kraft hinauf an den Strand, und dort blieb er lieben, reglos. Das Rosenmädchen richtete sich auf und begann, ihn zu streicheln, um das Leben zurück in seinen Körper zu holen, und die kleine
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